Eine Frau blickt nach oben © picture alliance / Bildagentur-online/Tetra

Intersektionalität: Was Geschlecht und Hautfarbe miteinander zu tun haben

Stand: 28.02.2022 10:16 Uhr

"Intersektionalität" ist ein Begriff, der in gesellschaftlichen Debatten vielfach verwendet wird. Entwickelt wurde er von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw, um erklären zu können, wie verschiedene gesellschaftliche Diskriminierungen ineinander wirken.

von Claudia Janssen

Der Begriff Intersektionalität verbindet gesellschaftliche und individuelle Erfahrungen. Er basiert auf der Einsicht, dass soziale Kategorien wie Geschlecht, Herkunft, Klasse, Alter, Behinderung nicht isoliert voneinander wirken, sondern eng miteinander verwoben sind und ermutigt dazu, über vertraute Grenzen hinauszudenken und sich auch Widersprüchen zu stellen.

Intersektionalität: Abgeleitet vom englischen Wort für Kreuzung

Kimberlé Crenshaw © picture alliance / Everett Collection | ©HBO Max/Courtesy Everett Collection
Kimberlé Crenshaw ist Professorin an der University of California und der Columbia University. Sie forscht zu institutionalisierten Rassismus.

Der Begriff klingt zunächst etwas kompliziert, wird jedoch verständlich, wenn darauf geschaut wird, wie er entstanden ist. Er ist abgeleitet von dem englischen Wort für "Kreuzung" (intersection). Dazu hat Crenshaw das Bild der Straßenkreuzung gewählt, die den Mittelpunkt bildet, an dem verschiedene Erfahrungen von Diskriminierung zusammentreffen und sich gegenseitig verstärken. Die von Ausgrenzung betroffene Person steht in der Mitte der Kreuzung, wo sie ein hohes Unfallrisiko hat, besonders verletzlich und schutzbedürftig ist, ohne dass ihre Situation auf einfache Gründe oder eigenes Verschulden zurückgeführt werden kann.

Kimberlé Crenshaw: Rassismus und Sexismus wirken zusammen

Ursprünglich hatte Kimberlé Crenshaw vor allem die Überschneidung von Rassismus und Sexismus und insbesondere die Situation Schwarzer Frauen im Blick. Als Juristin untersuchte sie Fälle, die vor Arbeitsgerichten verhandelt wurden. Die Klägerinnen erfuhren in den Unternehmen, in denen sie arbeiteten, Benachteiligungen: als Frauen und als Schwarze. Rechtlich war es aber nicht möglich, diese beiden Aspekte zu verbinden.

Intersektionaler Ansatz wird um Identität und andere Faktoren erweitert

Dieser Ansatz wurde in der Folgezeit erweitert. Aspekte wie Herkunft, Alter, sexuelle Identität, Behinderung wurden einbezogen. Denn sie wirken ebenfalls nicht unabhängig voneinander, sondern sind in ihren Auswirkungen eng miteinander verwoben. Auf Deutsch wird "Intersectionality" deshalb auch mit den Begriffen "Überkreuzungen" oder "Verwobenheit" wiedergegeben. Die damit verbundene Theorie dient zum einen dazu, die Verstrickungen, in die Einzelne eingebunden sind, zu entwirren und die Fäden zu sortieren. Zum anderen will sie auch dazu ermutigen, sich der Komplexität von Wirklichkeit anzunähern, über vertraute Grenzen hinauszudenken und sich auch Widersprüchen zu stellen.

Intersektionalität: Auch ein Thema für die Kirche

Auch in der Theologie versuchen immer mehr Menschen intersektional zu denken. Einfache Antworten darauf gibt es nicht. Wichtig ist es, miteinander ins Gespräch zu kommen, Fragen zu stellen, Neugier zu entwickeln, über die eigenen Privilegien nachzudenken. Über Macht und Ohnmacht zu sprechen, Verantwortung zu übernehmen und bereit dazu zu sein, auf eigene Vorteile zu verzichten. Die eigenen Verletzungen wahrzunehmen und trotzdem offen anderen Menschen gegenüber zu sein, das Gegenüber zu fragen, was es braucht, um sich willkommen zu fühlen. Diese Offenheit ist nicht nur eine individuelle Angelegenheit. Als wichtige gesellschaftliche Akteurin ist Kirche in der Lage, denjenigen eine Stimme verleihen, die ansonsten kein Gehör finden, die sozial ausgegrenzt werden.

Dabei sollte sie sich klar gegen rassistisches und antisemitisches Denken abgrenzen. Als Institution, zu der ganz unterschiedliche Menschen gehören, hat sie die Möglichkeit, ihre Räume für gesellschaftliche kontroverse Diskussionen zu öffnen. So kann sie Vielfalt eine Chance zur Entfaltung bieten und bewirken, dass die Freude an der Verschiedenheit, Empathie und Nähe im Miteinander wachsen kann.

Downloads

Überkreuzungen

Was Geschlecht, Hautfarbe und Herkunft miteinander zu tun haben - das Manuskript zur Sendung Download (200 KB)

 

Weitere Informationen
Das Buch "To Kill A Mockingbird" (Wer die Nachtigall stört") steht auf einem Tisch neben einem Blecheimer mit Tulpen © picture alliance / Dan Anderson/EPA/dpa | Dan Anderson Foto: Dan Anderson

Wie verletzend darf Sprache in der Literatur sein?

Die Auseinandersetzung um nicht-diskriminierende Sprache wird mit viel Emotion geführt. In dieser Folge geht es um Literaturkritik. mehr

Buchcover "Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung" © Aufbau Verlag

"Why We Matter": Emilia Roig zeigt Diskriminierungsmuster

Mit ihrem Buch ist Emilia Roig für den NDR Sachbuchpreis nominiert. Darin zeigt die Französin unbewusste Diskriminierungsmuster auf. mehr

Eine Frau blickt nach oben © picture alliance / Bildagentur-online/Tetra

Glaubenssachen: Was Geschlecht, Hautfarbe und Herkunft miteinander zu tun haben

Die Metapher der "Intersektionalität" ermutigt dazu, über vertraute Grenzen hinauszudenken und sich auch Widersprüchen zu stellen. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Glaubenssachen | 23.01.2022 | 08:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Kulturpolitik

Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und lächelt in die Kamera. Neben ihr stehen die Worte "Die Hauda & die Kunst" © NDR/ Flow

Kunstwissen to go - serviert von Bianca Hauda

Bianca Hauda serviert Kunstwissen in kleinen Happen: Porträts von Künstler*innen, deren Bilder und Werke in deutschen Museen zu sehen sind. mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Hände auf der Tastatur eines Laptops. © fotolia Foto: bufalo66

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

Mehr Kultur

Frauke Beeck und Andrea Schwyzer stehen im Innenhof des NDR LFH Niedersachsen und zeigen Bilder von Frauke Beeck © NDR Foto: NDR

"Frauendenkmäler sind sehr versteckt": Frauke Beeck im Gespräch

Im öffentlichen Raum gibt es kaum Denkmäler von Frauen. Die Künstlerin Frauke Beeck sucht, zeichnet und katalogisiert sie. mehr