"Oslo Stories: Träume": Die erste Liebe als literarisches Erlebnis
Nachdem der erste Teil der "Oslo Stories"-Trilogie bereits angelaufen ist, kommt jetzt der zweite Teil ins Kino - mit dem Goldenen Bären im Gepäck. Darin verschmelzen reales Erleben und literarische Fiktion.
"Holin hatte einen langen Strickschal, und jedes Mal, wenn sie aus dem Haus ging, wickelte er ihr den Schal um den Hals. Immer drei Mal. Und das tat er voller... ja, Zärtlichkeit." Filmszene
Johanne sehnt sich danach, auch so etwas Schönes zu erleben, wie das, was sie in einem französischen Liebesroman gelesen hat. Es sind die noch unerfüllten Träume und Fantasien eines Teenagers - die an sich schon eine ganze Welt ausfüllen. Aber dann passiert wirklich etwas: Ihre neue, noch recht junge Lehrerin regt mit ihrer Ungezwungenheit und ihrer Wollpulli-Erotik alle Sinne in ihr an. Johanne verliebt sich kopfüber in Johanna. Es ist, wie von einer Klippe zu stürzen, hält sie für sich fest.
Wenn Realität und Literatur verschmelzen
Mit dem Mädchen, das seine Gefühle aufschreibt, um sie zu bewahren, setzt Regisseur Dag Johan Haugerud diesmal eine Ich-Erzählerin ein. Wir folgen der linear erzählten Geschichte - zumindest anfangs: Johannes Ringen mit sich, ihre Verzweiflung, ihre heimlichen Ausflüge in einen anderen Teil der Stadt, wo Johanna wohnt, bis sie sich schließlich traut, zu klingeln - völlig aufgelöst.
Die Lehrerin schließt die Schülerin in die Arme und lässt sie rein. Was hinter der Tür passiert, bleibt zunächst offen, wird aber dann aus der Sicht von Johannes Mutter und Großmutter nach und nach aufgeblättert. Und damit erweitert der Film die Perspektive. Johannes Geschichte hat sich bereits selbst in einen Roman verwandelt. Jedenfalls hält die schriftstellernde Großmutter sie dafür und reicht das Manuskript ihrer Verlegerin weiter. Die ist begeistert - mehr als es der Großmutter lieb ist.
"So hast du noch nie geschrieben. So verwundbar und brutal ehrlich. Denn so zu schreiben, so offen, so einfach und ohne Vorbehalte, das ist unglaublich schwierig." Filmszene
Aus Lebensbeschreibung wird Literatur, und aus Literatur unsere Vorstellung von der Wirklichkeit. In diesem Zwiespalt lavieren die Figuren auf berührende und meist tragikomische Weise.
Die verschiedenen Modelle der Liebe
Johannes Geschichte ist eigentlich nur der Auslöser, der alles um sie herum in Bewegung setzt. Wobei der Personenreigen ausschließlich aus Frauen besteht. Die Mutter weiß nicht, was sie denken soll. Wurde ihre Tochter von ihrer Lehrerin missbraucht? Doch wie bei der Großmutter öffnen die beschriebenen Gefühle auch bei ihr die eigenen Sehnsuchtsschleusen: alles, was im Leben vielleicht möglich gewesen wäre. Was Johanne wirklich empfunden und gelitten hat, gerät bei den angeregten Diskussionen im Familienkreis zunehmend aus dem Blick.
"Und: Wie ist es heutzutage so, Sex zu haben", fragt ein Protagonist im ersten Teil der Trilogie. Dort erkundet Haugerud verschiedene Liebesmodelle. Liebe, Träume, Sehnsucht oder auch Sex, so genau will er das nicht voneinander trennen. Bei ihm ist es ein großes Amalgam. Und muss man immer alles so genau bestimmen? Um mit dem Lyriker Erich Fried zu sprechen: "Es ist, was es ist, sagt die Liebe."
Geistreiche Dialoge im Herzen Oslos
Spielte der erste Teil der Oslo-Trilogie rund um den Hafen, führt der zweite tiefer in die Viertel der Stadt hinein. Der jazzige Soundtrack lässt einen auf Johannes Spuren regelrecht durch Oslo schwimmen. Die Fährüberfahrten aus "Liebe" werden in "Träume" durch endlose Treppen ersetzt - eine starke Metaphorik. Geistreiche und humorvolle Dialoge, die an Eric Rohmers moralische Erzählungen erinnern, entlassen die Zuschauer nach dem Kinobesucher voller Anregung ins eigene Leben.
Oslo Stories: Träume
- Genre:
- Drama
- Produktionsjahr:
- 2024
- Produktionsland:
- Norwegen
- Zusatzinfo:
- Mit Ella Øverbye, Ane Dahl Torp, Selome Emnetu und anderen
- Regie:
- Dag Johan Haugerud
- Länge:
- 110 Minuten
- FSK:
- ab 6 Jahren
- Kinostart:
- 8. Mai 2025
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