Historiker Frei und Leonhard: "Die Erinnerungskultur ist in Gefahr"
Die Historiker Norbert Frei und Jörn Leonhard sehen die Erinnerungskultur im Wandel und auch in Gefahr. Sie sprechen über politische Bildung und die Bedeutung von historischen Originalschauplätzen.
Der Historiker Norbert Frei beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Verbrechen der deutschen NS-Vergangenheit, immer wieder aus unterschiedlichsten Perspektiven. Gerade erschienen ist sein jüngstes Buch "Einreden. Zu Zeitgeschichte und Zeitgenossenschaft". Sein Kollege Jörn Leonhard hat in "Über Kriege und wie man sie beendet" zehn Thesen darüber aufgestellt, wie in Kriegszeiten Frieden wiederhergestellt werden kann. Er beschäftigt sich damit, wie unterschiedlich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Ost- und Westdeutschland bis heute bewertet wird und wie trotz ausgeprägter Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland revisionistische Kräfte am rechten Rand massiv Zulauf gewinnen.
Phasen der Erinnerung an die NS-Zeit
Mit der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht vor den westlichen und östlichen Alliierten endeten zwölf Jahre NS-Terrorherrschaft und sechs Jahre eines desaströsen Krieges, der 60 Millionen Menschen das Leben kostete. Der Weg hin zu einer vorbehaltlosen Anerkennung der Rolle der Deutschen in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg war mitunter steinig.
Nach der sogenannten "Entnazifizierung" unmittelbar nach Kriegsende und den großen NS-Kriegsverbrecherprozessen gab es Phasen der Leugnung der deutschen Schuld und Forderungen nach einem "Schlussstrich". Später erfolgte dann Schritt für Schritt eine Anerkennung historischer Fakten und der besonderen Schuld der Deutschen. Es galt lange Zeit deshalb als so etwas wie ein kollektiver Common Sense, dass die deutsche Gesellschaft eine besondere Verantwortung trägt, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg aufrecht zu erhalten.
AfD torpediert gewachsenes Selbstverständnis
Dieses gewachsene gesellschaftspolitische Selbstverständnis wird momentan allerdings besonders von Akteuren der AfD, torpediert, sagt der Historiker Norbert Frei: "Die sogenannte 'Erinnerungspolitische Wende', die da gefordert worden ist von dem Herrn aus Thüringen. Das ist in der Tat, ich möchte fast sagen, ein zentraler Angriff auf das, was als Erinnerungskultur benannt worden ist. Das bezieht sich auf das, was im Laufe der Jahrzehnte Teil der deutschen kulturellen Identität geworden ist. Nämlich, dass man sich mit dieser Vergangenheit auseinandersetzt. Dass man sich kritisch zu ihr verhält."
Wie steht es um die Erinnerungskultur?
Das Erinnern an die Auslöser und die Folgen des Zweiten Weltkriegs dürften nicht aufhören, betont Frei. Wichtig sei deshalb, dass die Erkenntnisse und das Wissen weitergegeben werden. Politische Bildung sei deshalb essentiell, um Menschen zu befähigen historische Urteilskraft zu entwickeln, so Frei weiter. Selbst blanker Revisionismus halte viele Deutsche nicht davon, ab die AfD zu wählen, warnt auch der Historiker Jörn Leonhard: "Damit stehen wir natürlich vor der Frage, wie stabil, oder wie fragil ist diese bundesdeutsche Erinnerungskultur? Oder hat sie einfach an relativem Gewicht angesichts von vielen anderen Problemen und Krisen in unserer Gegenwart verloren? Vielleicht hat es auch mit einem Generationswechsel zu tun. Die Generation der Miterlebenden stirbt aus. Und damit wird natürlich auch die Authentizität der Erzählung eine andere."
Situation ist "ernst, aber nicht hoffnungslos"
Die deutsche Erinnerungskultur werde künftig Antworten sowohl auf den Generationswechsel als auch auf politisierte Debatten finden müssen, so Leonhard. Sein Historikerkollege Frei zeigt sich hoffnungsvoll, dass es trotz einer schwierigen politischen Lage auch weiterhin gelingen kann, Wissen und Kritikfähigkeit zu erhalten: "Wichtig ist, sich auch klarzumachen, dass es nie eine Entwicklung vom Dunkel ins Licht gegeben hat ohne Rückschläge, Gegenargumente und Gegenreaktion. Die Situation jetzt ist zwar ernst - aber sie ist nicht hoffnungslos. Gott sei Dank ist es ja immer noch die große Mehrheit, die weiterhin zu diesen Werten der selbstkritischen Auseinandersetzung mit Vergangenheit steht."
Rolle der Originalschauplätze
Laut Frei ist es nicht zwingend nötig, dass noch Zeitzeugen am Leben sind und persönlich ihre Geschichten erzählen, damit die Erinnerung nicht abreißt. Historische Dokumente etwa seien ein ebenso guter Weg, dass jüngere Generationen auch heute begreifen, was vor Jahrzehnten geschah. Auch der Historiker Jörn Leonhard zeigt sich generell zuversichtlich, dass das Erfolg hat. Er schreibt hierbei unter anderem Originalschauplätzen eine bedeutende Rolle zu: "Meine ganz konkrete Erfahrung besteht darin, dass in dem Augenblick in dem Menschen an die Orte der Verbrechen gehen, sich auch eine andere Sicht einstellt. Dann wird die Nachfrage, was wir wissen, was eine falsche Erzählung ist, was eine bloße Meinung zu diesen Verbrechen ist, drängender."
Ausführliche Interviews mit den beiden Historikern finden Sie als Podcasts in der NDR Mediathek. Norbert Frei war in der Sendung "A la Carte" und Jörn Leonhard ist bei "Das Gespräch" zu hören.
