80 Jahre Kriegsende: "Von Anfang an war dieser Jahrestag kontrovers"
Aleida Assmann ist eine der renommiertesten deutschen Forscherinnen zum Thema Kulturelles Gedächtnis. Im Gespräch erklärt sie, wieso Erinnerungsrituale wichtig sind, gerade an einem Tag wie dem 8. Mai 2025, dem 80. Jahrestag des Kriegsendes.
Assmann hebt hervor, dass insbesondere runde Jahrestage wichtige Momente zur Reflexion und zur Neubewertung der Vergangenheit seien und dass die Art und Weise, wie Deutschland mit dem 8. Mai umgehe, sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt habe.
Frau Assmann, ist dieser Gedenktag vielen Menschen in Deutschland - gerade weil es immer weniger Zeitzeugen gibt - inzwischen nicht mehr so wichtig geworden in ihrem Leben?
Aleida Assmann: Ich würde es eher umgekehrt sehen: Ich glaube, dass es mit diesen 80 Jahren sogar so etwas wie ein Crescendo gibt, dass sich alle Generationen jetzt noch einmal über ihre eigene Geschichte als Deutsche und die Geschichte ihres Staates informieren und überlegen können, welche Rolle sie in dieser Geschichte spielen.
Woher kommt dieses Crescendo ausgerechnet zum 80.? Inwiefern unterscheidet sich der 80. Jahrestag vom 75. oder vom 70.?
Assmann: Das Interessante an diesem Jahrestag ist, dass er 40 Jahre lang gar nicht begangen wurde. Das heißt, es ist ein verweigerter Jahrestag, der erst nach 40 Jahren Fahrt aufgenommen hat und damit abbildet, wie sich die Befindlichkeit der Deutschen geändert hat in ihrem Verhältnis zum Zweiten Weltkrieg. Das heißt, dass alle Generationen da immer wieder eine andere Erfahrung haben aufleben lassen können. Der wichtigste Generationswechsel ist der von der Kriegsgeneration zur Nachkriegsgeneration. Die Kriegsgeneration hat diesen Tag nicht gefeiert, sondern hat das Angebot der Alliierten ergriffen, das dann Adenauer auch umsetzte: Das war das Schweigen über die Vergangenheit. Durch Schweigen musste man darüber keine Rechenschaft mehr ablegen.
Gerade zu den runden Jahrestagen gibt es jede Menge Veranstaltungen. Sehen Sie langfristig die Gefahr, dass sich da eine Art Routine des Gedenkens einstellen kann?
Assmann: In diesem Fall geht das gar nicht, weil diese Wiederkehr des Jahrestages ganz stark von der verkörperten Erinnerung bestimmt ist. Natürlich gibt es an der Regierungsspitze, die ständig wechselt, Leute, die das veranstalten, und vielleicht gibt es auch noch in 80 Jahren Rituale dazu, aber dann gibt es keine Überlebenden mehr, keine Zeugen, und es gibt auch niemanden mehr, der die Entstehung dieses Jahrestages mit seinem Crescendo noch erlebt hat, wo die Betroffenen noch mitfühlen und mitsprechen.
Was können wir dafür tun, dass diese Erinnerung irgendwann nicht mehr stattfinden wird, nur weil es keine Zeitzeugen mehr gibt? Oder haben Sie gar keine Sorge, dass sich das irgendwann automatisch so einstellt?
Assmann: Ich bin insofern auch ein Zeitzeuge, als ich nach dem Krieg geboren bin und deswegen bestätigen kann, dass das ganze Thema des Krieges und der NS-Zeit überhaupt keine Rolle in meinen ersten 40 Jahren spielte, dass es erst ganz langsam in das Bewusstsein der Bevölkerung zurückkehrte. Man kann dieses Datum immer wieder zelebrieren, aber immer mit der langen Geschichte. An der Geschichte kann man ablesen, wie sich die Haltung der Bevölkerung verändert. Denn von Anfang an war dieser Jahrestag kontrovers, denn es ging darum, eine Befreiung zu feiern - und diese Befreiung hat in dem Sinne gar nicht stattgefunden. Die Italiener etwa, die am 25. April diesen Tag feiern, konnten ihre eigenen Faschisten überwältigen und tatsächlich Siegesfeiern feiern. Siegesfeiern gab es hier nicht.
In Großbritannien zum Beispiel sieht man Menschen, die Fähnchen schwenken. Wieso herrscht in anderen Ländern so eine kollektive Partystimmung?
Assmann: Da sind die Deutschen die Ausnahme - die Österreicher auch, denn die waren in diesem Krieg auf derselben Seite. Für die Alliierten ist es der Tag der Befreiung. Sie haben diese Befreiung mit unglaublichen Verlusten und Kämpfen erreicht. Es brauchte vier alliierte Armeen, um das Ende des NS herbeizubringen. Die Deutschen haben sich nicht nur nicht selbst befreit, sondern es brauchte gleich vier Armeen. Die Alliierten waren die Sieger und konnten diese Siegesfeiern feiern. Sie konnten auch verstehen, dass sich ihre Investition gelohnt hatte, weil eine Zeitenwende begann, nach dem Hitler-Reich. Das heute zu feiern ist die Kontinuität unter den Alliierten, und in diese Feierstimmung stimmen auch die Deutschen seit 40 Jahren mit ein. Aber das mussten sie erst einmal lange lernen, weil sie immer noch diesen Makel der Niederlage in sich tragen. Und wenn man in die rechten, nationalistischen Parteien schaut, ist das bis heute überhaupt nicht verschwunden.
Das Gespräch führte Keno Bergholz.
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