Das Dockville im Hamburger Hafen: Festival feiern in besonderen Zeiten
„Man muss die ganze Scheiße doch auch mal vergessen“, sagt Leon. Er hängt um fünf Uhr morgens auf einem grün angeleuchteten Baum und blickt etwas leer in eine unsichtbare Ferne. Den Weltkrisen-Nachrichten-Strudel entkomme er hier am besten. „Es bleibt so lang dunkel bei einem Festival im späten August!“
Und wirklich, im Hellen sieht das Dockville-Gelände im Hamburger Getreidehafen trotz der zwei Jahre Zwangspause aus, wie eine staubige Geisterbahn bei Putzlicht. Nachts verwandelt sich das Areal in eine verwunschene Kunstwelt aus Licht, Buschlabyrinthen, Bretterbuden und kleinsten Verschlägen. „Früher gab es das so nur bei der Fusion“ erzählt Erwin mit den Luchsohren, der seit Jahrzehnten als Tontechniker Festivals betreut. „Heute ist überall Fusion!“ Er meint die Urmutter der alternativen Festivals an der Müritz, das Festival, das diese Abenteuerspielplatz-Atmosphäre einst erfunden hat. Es reicht nicht mehr, eine große Bühne auf die Wiese zu stellen und Bands einzuladen, die alle hören wollen. Vielmehr gilt es, in unzähligen Nischen, Spezielles für jede Vorliebe zu liefern.
Fachkräftemangel im Festivalgeschäft
Blitzumfrage: "Wieviele der Künstler, die hier auftreten, kennt ihr?" Die ganz Informierten nennen maximal 20%. Es ist schwer, für ein mittelgroßes Indiefestival wie das Dockville im Jahr 2022 ganze große Namen zu verpflichten. Die Gagen sind explodiert, die Veranstaltungsfachkräfte in andere Berufe getrieben. Und jetzt noch die Inflation, die Energiepreise! Für ein paar große Namen reicht es: Der schweizer Sänger Faber mit seinen schmachtenden Rock-Chansons oder AnnenMayKantereit aus Köln, die einstige Straßenmusikkappelle, die heute zur Spitze des deutschen alternativen Pop gehört. Beide Acts stehen für Tiefe, Nachdenklichkeit und ja, auch eine gepflegte Schwermut. Aber, nach den Jahren ohne Shows und Festivals fehlt jetzt die zweite Reihe, die Durchstarter, von denen man "schonmal gehört hat". Für sie hat das Dockville einst gestanden.
Die Pandemie hat auch das Musikhören vereinzelt. Die Algorithmen streamen eine unendliche Vielfalt in diverse Ohren. Das spürt man beim Dockville-Festival in Hamburg. Während der schweizer Sänger Faber seine tröstlichen und schlauen Texte raunt, bellt und brüllt wenige Meter entfernt die Hip-Hop-Crew 102 Boys etwas von "Adiletten". Ist das immer noch das gleiche Festival? Ja! Und es versucht möglichst Vielen entgegenzukommen! Gut so!
Hereinspaziert! Hier ist für jeden was dabei!
Vasco aus Wien und Vivien aus Karlsruhe kommen jedes Jahr. Unabhängig davon, wer hier auftritt: „Hier kann man sein wie man will, auf anderen Festivals werden wir komisch angeschaut!“ Die beiden lieben Sportswear und verbringen das gesamte Wochenende in der Klüse. Ein kleiner Housefloor mit atemberaubendem Blick auf den Hafen. Was auf den anderen Bühnen passiert, interessiert die beiden kaum. Wie sie stellen sich viele ihr völlig einzigartiges Festivalerlebnis zusammen. Das Dockville mit seinen vielen Bühnen gibt es her.
Las Vegas Zauberschau? Warum nicht!
Lea und Louis hingegen lassen sich von einer musikkundigen Freundin durch das Wochenende navigieren. Sie sind neugierig auf Neues! Vor Publikum aufzutreten, das einen nicht kennt, macht Festivalkonzerte für Musiker zur Herausforderung. Da müssen die Fans abgeholt werden, die alle Texte auswendig kennen, und auch die Laufkundschaft gilt es anzulocken und zu halten. Tash Sultana, die Kinderzimmer-Produzentin aus Australien, löst dieses Dilemma mit einer chamäleonartig-farbwechselnden Show. Mal das "Mädchen mit Bass, Gitarre und Loopmaschine", mal ein Superstar im gewaltigen Beat- und Lichtgewitter. Das macht Effekt, da bleibt man dabei!
Das Duo-Ätna aus Dresden, kürzlich noch in einer artifiziellen Nische, macht seinen Auftritt durch Showeinlagen wie aus einer schrägen Las-Vegas-Parodie groß genug für die Festivalbühne. Da schießen grüne Laserstrahlen aus Seidenhandschuhen, da springt ein Alien mit Discokugelkopf und Sprungfedershuhen über die Bühne. Da wird auf Sitzbällen zur Feedbackrunde gerufen (!). Auch wer die manchmal sperrigen Sounds der zwei Jazzmusiuker noch nie gehört hat, bleibt bei so einem Auftritt hängen.
Kurzes Einnicken im Morgengrauen
So entstehen wohl so viele individuelle Festivalerlebnisse, wie das MS Dockville im Hamburger Hafen Besucher hat. "Mitgrölen? Das ist doch eh peinlich!" Sagt sich das Publikum mit breit gefächertem Interesse.
Irgendwann, weit nach Mitternacht, geraten ohnehin alle in dieses seicht-verschallerte Festivalgefühl. Wenn alles wie Watte wirkt und jeder mit jedem den schönsten Unsinn plaudert und es ganz egal ist, welche Musik man hört, wie alt man ist, woher man kommt, warum man hier ist.
Und Leon auf dem Ast, der alles vergessen wollte? Er hat alles gegeben: Kurzes Einnicken im Baumlabyrinth im Morgengrauen. Gut, bis nächstes Jahr, hoffentlich!