Der Lehrer Bob Blume © picture alliance/dpa Foto: Philipp von Ditfurth

Netz-Lehrer Bob Blume plädiert für eine "nationale Bildungsvision"

Stand: 15.08.2022 06:00 Uhr

Der Lehrer und Blogger Bob Blume hat ein Buch über das deutsche Schulsystem geschrieben: "Zehn Dinge, die ich an der Schule hasse". Ein Problem seiner Ansicht nach: ein völlig überfrachteter Lehrplan.

Herr Blume, das Problem ist doch wahrscheinlich: Dem Englischlehrer ist ein Shakespeare am liebsten und dem Mathelehrer die binomischen Formeln, oder?

Bob Blume: Auf jeden Fall. Ich denke auch, dass es in jedem Fach jemanden gibt, der auf einen Inhalt beharrt. Das nehme ich ja bei mir selbst wahr, dass ich mich sehr schwer von bestimmten Inhalten trennen kann. Aber wir müssen uns überlegen, wofür Schule da ist. Wenn Schule nicht dafür da sein soll, dass wir einen überkommenen Fächerkanon abhaken, damit wir am Ende ein Zertifikat ausgeben können, sondern wenn Schule dafür da ist, lernen zu initiieren und auch soziale Prozesse zu unterstützen, Chancengleichheit herzustellen, Demokratieerziehung zu leisten, dann geht das schlicht nicht zusammen. Es wird immer geschaut, wo wir noch schnell Lehrer herkriegen können, weil wir zwischen 30.000 und 80.000 Lehrerinnen und Lehrer zu wenig haben, aber es wird nie gefragt, wo wir etwas am Stofflichen abschneiden können. Das müssen wir aber machen, denn ansonsten sind die Anforderungen, die an Schule gestellt werden, aus meiner Sicht von den einzelnen Personen nicht mehr leistbar. Das führt dann dazu, dass beispielsweise neun von zehn Lehrerinnen und Lehrern sich stark oder sehr stark belastet fühlen, wie das deutsche Schulbarometer jüngst herausgefunden hat.

Woran liegt das? Zu viele Menschen als Entscheider, die der Schule schon recht fern sind?

Blume: Ich glaube, dass es in der Tat viele verschiedene Entscheidungsträger auf vielen verschiedenen Ebenen der Bürokratie sind. Und ich glaube, dass dieses System es noch nicht gelernt hat, sich in einer digitalen Gesellschaft einzufinden, die vor Expertinnen und Experten, die gute, praktikable Ideen und Konzepte haben, nur so strotzt. Deshalb plädiere ich oftmals auch dafür, dass man zumindest eine Art von nationaler Bildungsvision mit entsprechenden Verantwortlichen, aber auch mit entsprechenden Menschen aus der Praxis erstellt, damit überhaupt mal klar wird, was wir eigentlich damit erreichen wollen. Weil ich glaube, dass diese Unklarheit mit länderspezifischen Besonderheiten gefüllt wird.

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Ganz viel wird über das Digitalisierungsdefizit gesprochen. Man könnte auch den Standpunkt haben, dass in der ersten Klasse Wachsmalstifte wichtiger sind als ein iPad. Wie sehen Sie das?

Blume: Ich sehe das grundsätzliche Problem, dass wir uns überhaupt erst einmal einig werden sollten, worum es überhaupt geht. Digitalisierung ist so ein standardmäßiger Begriff, der alles umfassen soll, aber eigentlich nichts benennt. Digitalisierung bedeutet erst einmal, dass Infrastruktur und Geräte vorhanden sind. Die Digitalisierung als gesellschaftliche Grundlage dessen, was eigentlich "Kultur der Digitalität" bezeichnet werden müsste, also Vernetzung, die Möglichkeit Informationen zu entnehmen, aber auch die Gefahren und Herausforderungen, die gehen nicht wieder weg. Aus meiner Sicht ist die Ansicht: "Vielleicht ist das noch nichts für mein Kind" genauso, als würden wir sagen: "Die ersten acht Jahre lasse ich dich nicht in die Stadt gehen, weil da gefährliche Autos und komische Leute gibt. Sondern für mich fasst der Titel eines Buches, das ich für sehr sinnvoll halte, es gut zusammen: "Begleiten statt verbieten". Das muss nicht alles auf einmal geschehen, aber wir müssen uns überlegen, worum es geht. Ich würde sagen, es geht um reflektiertes Lernen im digitalen Wandel. Das heißt, ich muss in der Lage sein zu verstehen, was mich umgibt und wie ich damit produktiv umgehen kann.

Ein anderes sehr umstrittenes Thema ist der Leistungsdruck. Da gibt es das Argument: Das muss es geben, sonst werden die nicht auf die reale Welt vorbereitet. Wie sehen Sie das? Noten - ja oder nein und ab wann?

Blume: Da würde ich ganz gerne mal so ein bisschen aus der Haut fahren, weil auch bei diesem Leistungsthema keiner weiß, was damit gemeint ist. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn ich mit meinen Schülerinnen und Schülern ein Theaterstück auf die Beine bringe, wo die in weniger als einem Jahr komplette Textseiten auswendig lernen, wo junge Menschen zunächst einmal sehr schüchtern sind, es gar nicht schaffen, mit ein paar Leuten zu sprechen, und dann auf der Bühne stehen, selbstbewusst sind und mit stolzer Brust mit anderen interagieren, dann ist das nicht nur eine unglaubliche Leistung, die auch entsprechend gewürdigt wird, sondern das bereitet natürlich auch auf das Leben vor, wo man mit Menschen kommunizieren muss, wo man Präsentationen halten muss, wo man für sich selbst einsteht. Das, was viele Leute mit Leistung meinen, sind Noten und Prüfungen, die sich in Wirklichkeit auf einen ganz kleinen Ausschnitt dessen beziehen, was Schulwirklichkeit ist. Wenn sechs Stunden am Stück an einem Schreibtisch sitzen und von Hand über eine Frage schreiben, die man sich selbst nicht gestellt hat, auf die Gesellschaft vorbereiten soll - dann weiß ich nicht, was damit gemeint ist. Ich glaube das, was viele denken, ist, dass sie durch etwas durchgehen mussten, quasi gehärtet wurden, was jetzt die anderen gefälligst auch zu ertragen haben. Ich würde viel lieber die Frage stellen: Wie können wir es besser machen? Das schließt Leistung nicht aus, aber das koppelt sie nicht ausschließlich an Noten oder Prüfungen.

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Kinder in der Schulklasse beteiligen sich am Unterricht. © picture alliance Foto: Sebastian Gollnow

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Im Moment diskutieren wir ganz viel öffentlich über Schule, insbesondere als Pandemietreiber, als Problemfall. Steht das nicht auch immer wie ein Monster im Klassenzimmer? Die Schülerinnen und Schüler kriegen das doch mit.

Blume: Die Schülerinnen und Schüler sind, glaube ich, resilienter als wir alle zusammen. Aber in der Tat ist, vor allen Dingen in den höheren Klassen, dieser Widerspruch auch schon aufgefallen, dass auf der einen Seite gesagt wird, dass die Schulen offen bleiben, weil die Schülerinnen und Schüler so wichtig sind. Das kann man theoretisch so sehen, denn die Pandemie wurde politisch für beendet erklärt. Aber was ich daran so interessant finde, ist, dass dieser Spruch, dass die Schülerinnen und Schüler so wichtig sind, eine weitere Behauptung ist - aber dieser Behauptung folgt keine Konsequenz. Es gibt weder Luftfilter, noch wird irgendetwas getan, damit die Schülerinnen und Schüler auch mal unabhängig von diesen ominösen Lernlücken und Ferienkursen die Möglichkeit haben, Sozialkontakte nachzuholen. Also all das, was in der Pandemie verloren gegangen ist. Ich frage mich immer, ob dieser Spruch "Die Schülerinnen und Schüler sind uns so wichtig (und deshalb sind die Schulen offen)" nicht im Prinzip die billigste politische Phrase ist, die man sich hätte einfallen lassen können. Weil daraus folgt einfach nichts. Und das kriegen die Schülerinnen und Schüler natürlich auch mit.

Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 12.08.2022 | 16:30 Uhr

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