Ein Kreuz auf einer Kirche.

Warum Menschen aus der evangelischen Kirche austreten

Stand: 01.05.2025 09:38 Uhr

Immer mehr Menschen verlassen die Kirchen. Zwei ehemalige Kirchenmitglieder berichten, warum sie aus der evangelischen Kirche ausgetreten sind, obwohl sie sich weiterhin als Gläubige sehen.

von Andreas Roth

Es werden rund 100.000 Menschen erwartet beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, der derzeit in Hannover läuft - doch die Zahl der Menschen, die die evangelische Kirche verlassen haben, lag in den letzten Jahren weitaus höher. 345.000 waren es 2024, im Jahr zuvor sogar 380.000, ein Rekord. Darunter sind keineswegs nur Menschen, denen der Glauben egal geworden ist - ganz im Gegenteil: Auch viele Engagierte treten aus, weil sie die politische oder theologische Richtung ihrer Kirche nicht mehr teilen.

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Zwei Gläubige treten aus der evangelischen Kirche aus

Es war ein Julitag vor zwei Jahren, als Thomas Pester mit seiner Frau in das Rathaus der Gemeinde Mülsen bei Zwickau ging - und einen Schlussstrich zog. "Es war ein bisschen wie Verrat. Wir haben uns damit echt schwergetan, und auch die Standesbeamtin hat zu uns gesagt: 'Also, so richtig glücklich sehen Sie nicht aus'." Da hatte der heute 52-jährige Unternehmer gerade den Austritt aus der evangelischen Landeskirche Sachsens erklärt. Obwohl er als junger Christ in der DDR die Jugendweihe verweigert hatte, und deshalb kein Abitur machen durfte - und obwohl er als Kirchvorsteher und Ehrenamtler stets eine Stütze seiner Gemeinde war.

"Gott ist queer..."

Dass es so weit kam, hat auch mit der Predigt auf dem Abschlussgottesdienst des Evangelischen Kirchentages in Nürnberg vor zwei Jahren zu tun. Dort hieß es "Jetzt ist die Zeit zu sagen: Gott ist queer..." Das war für Thomas Pester der letzte Tropfen, der das Fass dann zum Überlaufen gebracht habe. "Für uns ist Gott etwas Heiliges, den ich mit dem größten Respekt behandle. Diese Heiligkeit ist für mich unantastbar ist - und ihn jetzt halt so in diesen Mainstream hineinzuquetschen..."

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Kritik an der evangelischen Kirche: zu konservativ

"Mir ist die Kirche manchmal zu unentschlossen, also eher sehr konservativ unentschlossen", sagt Aaron Körnich, der auch darüber nachdenkt, die Kirche zu verlassen - nur auf der anderen Seite. Der 21-Jährige angehende Krankenpfleger mit grüner Wollmütze und Nasen-Piercing engagierte sich in der evangelischen Jugendarbeit und der Flüchtlingsarbeit seiner Zwickauer Kirchgemeinde - dieser Weg führte ihn nach links. Er blockierte Demonstrationen von Neonazis, kritisiert die Ausgrenzung von anderen Lebensformen, kandidierte für die Linkspartei - in seiner Kirche fühlt er sich zunehmend fremd. Das Thema der Nächstenliebe, das in der Bibel große Bedeutung hat, sieht Körnich viel zu niedrig vertreten, "das ist nicht das, wo ich mich in der Kirche sehe." 

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Jeden Tag Engagement für die Gesellschaft

Auch aus dem linken Freundeskreis von Aaron Körnich haben einige bereits die Landeskirche verlassen. Freikirchen sind ihnen meist zu konservativ. Daher leben sie ihren Glauben anders: politisch engagiert. "Glauben ist nicht nur sonntags etwas, wo man hingeht und sich berieseln lässt, sondern dass man jeden Tag eine Entscheidung trifft, sich aktiv in der Gesellschaft einzubringen", sagt Körnich.

In der unsichtbaren Kirche Jesu, da sind sich der Linke Aaron Körnich und der Konservative Thomas Pester einig, sind sie weiter Mitglied - wenn auch auf ganz verschiedenen Wegen.

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