Eine bewegte Geschichte: 100 Jahre Rundfunkchor Berlin
Der Rundfunkchor Berlin feiert in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag - ein guter Anlass auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft des Ensembles zu schauen.
Der Rundfunkchor Berlin feiert sein 100-jähriges Bestehen. Ein ganzes Jahrhundert bietet so einige Errungenschaften, eine bewegte Geschichte und wechselhafte Entwicklungen, die das Ensemble genommen hat. 100 Jahre sind ein Grund zurückzublicken - aber auch nach vorn. "Wie sollte ein Ensemble aussehen, was sollte es bewahren und was verändern, um auch in 100 Jahren noch relevant zu sein?", fragt Rachel-Sophia Dries, die seit 2022 Direktorin des Rundfunkchors Berlin ist.
Und auch Gijs Leenaars blickt zurück und zugleich nach vorn. Er ist der künstlerische Leiter und Chefdirigent: "Für mich ist es eine Ehre, dass ich Teil dieses Ensembles und seiner Geschichte bin. Daher habe ich mich natürlich intensiv mit der Geschichte des Chores beschäftigt. Da gibt es die großen Namen und ganz extreme, politische Wendungen. Und dadurch, dass man zurückschaut, ist man noch intensiver dafür sensibilisiert, wie die Zukunft ausschauen könnte."
Die Gründung
Der Mai des Jahres 1925 gilt als der Gründungsmonat des Rundfunkchors, der damals noch Berliner Funkchor hieß, denn er trat im noch neuen Medium Radio auf und hat dort unterschiedlichste Stile und Gattungen bedient. Laut Hans-Hermann Rehberg war es ein Chor, der "zum Teil Volkslieder gesungen hat, zum Teil auch kleine Motetten und konzertante Opern sowie Oratorien." Am Anfang seien es nur 23 Leute gewesen, erzählt der Sänger weiter, und dass ordentlich aufgestockt werden musste, "um auf die Besetzung zu kommen, die der Trichter damals erfordert hat."
Rehberg selbst ist seit 1981 als Bariton Mitglied des Ensembles und hat das Profil des Chores ab 1990 als langjähriger Direktor entscheidend mitgeprägt. Er weiß außerdem, dass Mai 1925 als Gründungsdatum nur ein Näherungswert ist, "weil schon vorher ein paar Monate lang vor den Mikrofonen gesungen wurde", erklärt er. "Im Mai aber wurden erste Verträge unterzeichnet - so auch der Chorleitervertrag. Deshalb wurde Mai 1925 als Gründungsdatum fixiert."
Von der Nazizeit bis zur DDR
Das Lehrstück "Der Flug der Lindberghs" von Bertolt Brecht, Elisabeth Hauptmann, Paul Hindemith und Kurt Weill ist eins der frühesten Werke, die der Berliner Funkchor aufgenommen hat. Das war 1930, zusammen mit dem Berliner Funkorchester unter Leitung von Hermann Scherchen. Die Geschichte des Chores ist eng mit der Geschichte Deutschlands verknüpft, den hellen ebenso wie den dunklen Phasen. Während der Nazizeit verschwanden etwa jüdische und andere verfemte Komponisten aus den Programmen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Dirigent Helmut Koch die professionelle Chorlandschaft in Berlin wieder aufgebaut. Ein Schwerpunkt in der Arbeit Kochs war das barocke Repertoire. Dazu gehörte Händels "Alexanderfest", eine Ode an die Musik, die Koch 1972 in Halle mit der Rundfunk-Solistenvereinigung Berlin (ein weiterer Name des Rundfunkchors Berlin) und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin aufgeführt hat. Koch, früher Mitglied der NSDAP, war ab 1954 Mitglied der SED. Er hat mit dem Rundfunkchor Berlin auch die Nationalhymne der DDR aufgenommen. Weitere politische Werke, die zur bewegten Geschichte des Rundfunkchors Berlin gehören, sind von Komponisten wie Hanns Eisler, Kurt Weill oder auch Mikis Theodorakis.
Der Rundfunkchor zur Wendezeit
Dass der Rundfunkchor nach der deutschen Wiedervereinigung eine neue Heimat finden konnte, war ganz wesentlich auch ein Verdienst von Hans-Hermann Rehberg, der 1990 das Amt des Chordirektors übernahm. "Die Rundfunklandschaft musste ohnehin neu geordnet werden", erinnert er sich heute, "und es war lange ungewiss, was mit den Klangkörpern passiert, die vorher beim DDR-Rundfunk oder beim RIAS waren. Es war ein harter Kampf - mit einem gelungenen Ergebnis. Denn es wurde bei beiden Ensembles eine Profilbildung betrieben, die deutlich machte, dass es zwei exzellente Klangkörper sind, die sich in ihrem Repertoire deutlich unterscheiden, auch hinsichtlich des Klangs und der Aufgabengebiete."
Während der RIAS Kammerchor sich, seinem Namen entsprechend, vor allem auf kammermusikalische, also klein besetzte Werke fokussierte, legte der Rundfunkchor Berlin seinen Schwerpunkt aufs chorsinfonische Repertoire. Beethovens Missa solemnis ist eins von den Paradestücken des Rundfunkchors - ebenso wie Beethovens Neunte Sinfonie mit seinem mächtigen Schlusschor. Dieses Werk hat für den Rundfunkchor und seine deutsch-deutsche Geschichte eine ganz besondere Bedeutung, erklärt Gijs Leenaars: "Es gibt noch Kolleginnen und Kollegen, die zur Zeit des Mauerfalls Beethovens Neunte gesungen haben. Das hat dem Stück eine Extra-Bedeutung gegeben. Auch wenn Dirigenten verschiedene Interpretationen haben, ist das Wesen des Werkes tief verankert - und das ist total schön."
Das Vermächtnis des Simon Halsey
Nach Robin Gritton, der den Chor Anfang der 1990er-Jahre geleitet hat, hat sich die Beziehung des Chores zu britischen Dirigenten noch weiter vertieft: mit Simon Halsey, der von 2001 bis 2015 Chefdirigent des Rundfunkchors war. Halsey war es auch, der den Chor besonders nahe an die Berliner Philharmoniker und deren damals ebenfalls neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle heranrückte. Der Rundfunkchor sei in dieser Zeit zu einem Teil des Orchesters geworden, hat Rattle rückblickend gesagt. Diese enge Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern ist auch auf Tonträgern dokumentiert, einige davon preisgekrönt. In die Zeit mit Halsey fallen viele wichtige Projekte des Rundfunkchors, die noch einmal neue Wege eröffnet haben. Darunter etwa Bachs Johannes-Passion und die Matthäus-Passion, inszeniert vom Regisseur Peter Sellars. Ebenso das "Human Requiem", eine Inszenierung von Brahms' deutschem Requiem.
Halsey hat nicht nur als Künstler, sondern auch als Pädagoge seine Spuren hinterlassen. Unter dem Motto "Broadening the scope of Choral Music" hat er gemeinsam mit dem damaligen Chordirektor Hans-Hermann Rehberg eine neue Nahbarkeit des Rundfunkchors angestrebt und auch erreicht. Nicht zuletzt mit den Mitsingkonzerten, die er 2003 ins Leben gerufen hat. Damit wollte Simon Halsey Barrieren abbauen. "Es ist fantastisch, dass wir in Deutschland sieben Weltklasse-Rundfunkchöre haben," schwärmt er, räumt aber ein: "Ich habe allerdings immer gedacht, dass wir mehr Kontakt zwischen Profis und Amateuren brauchen. Es ist wichtig zu erinnern wie wir begonnen haben: Nämlich, weil wir es lieben zu singen."
Halsey hat eine Ära geprägt, doch auch sein Nachfolger Gijs Leenaars hat eine ganz eigene Handschrift. Die Leidenschaft, möglichst viele Menschen für den Chorgesang zu begeistern, verbindet die beiden. "Wir sind überzeugt, dass der Chorgesang etwas ist, das so bereichernd sein kann, dass es möglichst wenig Menschen verpassen sollten. Da fühlen wir uns als Botschafter und suchen immer wieder neue Wege", sagt Leenaars enthusiastisch.
Neue Wege mit modernen Konzepten
Diese neuen Wege können ganz unterschiedliche Richtungen einschlagen. 2017 hat der Rundfunkchor zum Beispiel den Dialog der Berliner Verkehrsbetriebe mit ihren Nutzer:innen vertont und die entsprechenden Clips auf dem eigenen Facebook-Kanal veröffentlicht. Es ist eins von vielen Projekten, mit denen der Rundfunkchor sich als zugänglich präsentiert und noch tiefer in der Stadtgesellschaft verankert. Mit seiner Rundfunkchorlounge hat das Ensemble ein Format eingeführt, das Musik, Gespräche und eine lockere Atmosphäre verbindet. Mit dem Projekt "Sing!" wiederum hat der Rundfunkchor ein eigenes Bildungsprogramm gestartet, in Zusammenarbeit mit Institutionen wie Berliner Grundschulen. Dass der Berliner Senat Anfang 2025 beschlossen hat, die Förderung für dieses Projekt zu streichen, hat für viel Unmut und Diskussion gesorgt. Vorerst scheint das Projekt gesichert - dank privater Spenden und neuer Förderer.
In der Begegnung mit anderen Kunstformen wie dem Theater oder dem Tanz (zum Beispiel mit dem Staatsballett Berlin), in Auftragswerken (zum Beispiel die Choroper "Angst" von Christian Jost) und in genreübergreifenden Projekten (zum Beispiel mit dem Rapper Megaloh) zeigt der Rundfunkchor Berlin einen Sinn für zukunftsträchtige Ideen und nach wie vor die Lust Neues zu entdecken und zu entwickeln - wie in seinen Anfängen im Radio, diesem damals völlig neuen Medium.
Die ganze Sendung können Sie in der ARD Audiothek hören. Die Chormusik können Sie auch als Podcast abonnieren - in der ARD Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.
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