"Über Kriege und wie man sie beendet": Historiker Leonhard im Gespräch
Dass das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg verlieren würde, war den meisten bereits ab 1943 klar. Trotzdem vergingen noch zwei Jahre bis zur bedingungslosen Kapitulation. Der renommierte Historiker Jörn Leonhard nennt die Gründe dafür.
"Über Kriege und wie man sie beendet" heißt das Buch von Jörn Leonhard, in dem er zehn Thesen aufstellt, wie in Kriegszeiten Frieden wiederhergestellt werden kann. Im Gespräch erläutert er, warum fast alle großen Kriege der Neuzeit in ihrer Endphase besonders blutig waren, wie unterschiedlich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Ost- und Westdeutschland bis heute bewertet wird und wie trotz ausgeprägter Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland revisionistische Kräfte am rechten Rand massiv Zulauf gewinnen.
Herr Leonhard, dass der Krieg damals verloren ging, das ahnten viele seit Stalingrad oder spätestens seit dem Scheitern der letzten großen Offensive der Deutschen bei Kursk 1943. Und doch hat er weitere zwei Jahre gedauert, und die Zahl der täglich gefallenen vervielfachte sich noch. Welche Motive, Glaubenssätze, Hoffnungen, Ängste waren es, die den Krieg weiter und immer noch weiter verlängerten?
Jörn Leonhard: Es sind vor allen Dingen zwei wesentliche Faktoren. Das Eine ist der Terror des Regimes gegen seine eigenen Bürger - das verschärft sich ja im Verlauf des Zweiten Weltkriegs, so wie wir auch wissen, dass der Holocaust tief in diese Erfahrung des Zweiten Weltkriegs verwoben ist. Das Zweite, damit zusammenhängend, ist die sehr erfolgreiche Erzählung, die das Terrorregime des NS fabriziert, und die dann in die Erfahrungen des Bombenkrieges, des Luftkrieges, die Angst vor der Vertreibung übergeht. Der Glaube an den "Endsieg" ist spätestens seit Stalingrad nicht mehr da. Aber dann geht es um die Verteidigung der Heimat, in vieler Hinsicht auch um die Angst, dass das, was man gerade in Osteuropa selbst als Täter erlebt hat, auf Deutschland, und das heißt auf die eigenen Familien, zurückfallen könnte. Und parallel dazu verschärft sich der Luftkrieg. Diese Faktoren erklären, warum ein Krieg, an dessen Sieg man nicht mehr glaubt, mit entsetzlichen Konsequenzen bis in den Mai 1945 weitergeht.
Im Übrigen ist es so, dass fast alle großen Kriege der Neuzeit gerade in der Endphase besonders blutig werden, weil es, selbst wenn man den Krieg nicht mehr mit einem Sieg entscheiden kann, vielleicht doch noch die Hoffnung gibt, für die Konferenztische ein günstiges Ticket zu bekommen. Diese Hoffnung ist in der NS-Elite bis zum Schluss geblieben - die Hoffnung auf den Seitenwechsel Großbritanniens, für einen künftigen Krieg gegen den Bolschewismus. Solche Ideen hat es bis in den Mai 1945 gegeben.
Als die Niederlage dann allmählich doch unabweisbar wurde, suchten die Spitzen des Regimes nach Erklärungen. Der Propagandaminister Joseph Goebbels, der nach Stalingrad den "totalen Krieg" herbeigegeifert hatte, schrieb im März 1945 in sein Tagebuch, die militärische Elite habe versagt, die Generalität sei zu alt und verbraucht. Und überhaupt stehe sie dem "nationalsozialistischen Gedanken- und Haltungsgut" völlig fremd gegenüber. Wenn dem so war, dann fragt sich ja erst recht: Warum noch so lange? Auch da war Beteiligung nach Goebbels Interpretation wider besseres Wissen und Wollen.
Leonhard: Wobei man schon sagen muss, dass wenn man sich die Listen derer ansieht, die im Umkreis des 20. Juli verfolgt und hingerichtet werden, sich auch viele Nationalkonservative finden, die aber irgendwann mit diesem Regime brechen oder schon vorher gebrochen hatten. Man sieht aber, dass in der Endphase des Krieges der radikale NS-Blick auf die alten Eliten - und das heißt auch: auf die alten militärischen Eliten - doch noch mal deutlich zunimmt und auch die Bereitschaft, dann das zu tun, was Goebbels auch immer wieder im Tagebuch den "kurzen Prozess" nennt.

Das Problem für viele Militärs bleibt - das wissen wir aus den Tagebüchern und Briefen - die Schwierigkeit, gegen den Diktator den eigenen Eid zu brechen und den aktiven Widerstand aufzunehmen. Also das, was man mit Stauffenberg verbindet, den man noch bis in die ersten Jahre der Bundesrepublik als Verräter stigmatisiert. Er wird längst offiziell als Held des Widerstandes gefeiert und bleibt trotzdem für viele Deutsche, auch für viele ehemalige Wehrmachtsangehörige, doch ein Verräter. Diese Nachwirkungen des persönlich auf Hitler geleisteten Eides hat im Grunde genommen doch eine lange Nachgeschichte, die auch noch bis in die frühe Bundesrepublik hineinreicht.
Ich zitiere noch einmal aus dem Tagebuch von Goebbels, so schwer es auch fällt: "Allmählich wird doch die Millionen-Bevölkerung der Reichshauptstadt etwas nervös und hysterisch." Das war ebenfalls im März 1945. Wann war denn in Wahrheit der Rückhalt in der Bevölkerung verbraucht - trotz der Strategien, die dafür sorgten, dass eine Bereitschaft dann doch blieb, diesen Krieg mitzumachen?
Leonhard: Der Glaube an einen noch möglichen Sieg erodiert eigentlich schon im Laufe des Jahres 1942, als die Offensive in der Sowjetunion stockt. Die Schlacht von Stalingrad ist ein ganz wichtiger Punkt, weil seit dieser Zeit nicht zu leugnen ist, dass der Krieg in Osteuropa eigentlich nicht mehr zu gewinnen ist. Und dann kommt als zweiter Faktor der beginnende Luftkrieg dazu, über den lange gesagt wird, das könne gar nicht passieren, die deutsche Luftwaffe würde das alles verhindern. Der Luftkrieg trägt dann auch die Gewalt in die deutschen Städte.
Und trotzdem bleibt diese Befürchtung, dass man selbst mit diesem Terrorregime am Ende vielleicht noch besser fährt als mit einer wilden Soldateska, die aus der Sowjetunion kommt - die berühmten, immer wieder zitierten "asiatischen Horden". Dahinter steht das Bewusstsein, dass die Gewalt, die man selbst ausgeübt hat, auf Deutschland zurückfallen kann. Das führt nicht zum Glaube an den Endsieg, aber zu dem Willen, den Krieg, so lange es geht, von der eigenen Heimat, in die man hofft, irgendwann zurückzukommen, abzuhalten.
Das Gespräch wurde geführt von Ulrich Kühn. Das komplette Interview können Sie in der ARD Audiothek hören und überall, wo es Podcasts gibt.
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