Jahresrückblick: Eine Frage des Standpunkts
Florian Breitmeier, Leiter der Redaktion Religion und Gesellschaft, kommentiert das Krisenjahr 2020.
Wir stehen kalendarisch mittendrin, in Zeiten zwischen den Jahren. Damit ist nicht nur die Zeit am Ende eines Jahres gemeint: zwischen den Jahren im Dezember. Sondern tatsächlich die Zeit zwischen den Jahren: 2019, für uns die Zeit vor Covid 19 - dann 2020 - das Krisenjahr und 2021 ist schon im Wartestand.
Doch von Stillstand kann keine Rede sein. Zu sehr dominiert da ein mentaler Schwebezustand. Was bleibt in Zeiten des Umbruchs, was trägt uns durch die Zeit? Wir hören tagtäglich die Todeszahlen und die Meldungen über Infizierte als Zwischenstände einer Krise. Und versuchen standzuhalten. Wir ahnen und erleben es: Nichts bleibt so wie es war.
Und zugleich hoffen wir: Alles verändert sich, damit es vielleicht auf neue Weise so bleiben kann, wie es immer war. Stillstand gilt gemeinhin als Rückschritt, Stillstand kann aber auch der Startpunkt für einen Schritt nach vorn sein. Es ist halt eine Frage des Standpunkts.
Dem Schwebezustand standhalten
An Ostern sahen wir den Leerstand in den Kirchen: keine Gottesdienste, auch keine öffentlichen Trauerfeiern waren möglich. Es sind Wunden geblieben, die nur schwer heilen. Auch Synagogen und Moscheen blieben im Frühjahr lange geschlossen. Was wir aber auch erlebten: Religiosität an neuen Standorten. Gottesdienste im Auto, Prediger auf Treckern, ein Papst mit einem Pestkreuz allein auf dem Petersplatz, Messen, Freitagsgebete und Schabbatfeiern im Live-Stream. Kreativität, quasi aus dem Stand.
Was wir auch hörten: Standing Ovations zum Beispiel für die Krankenschwestern und die Pfleger und all die anderen, die den Laden am Laufen halten. Pfadfinder erledigten für Bedürftige den Einkauf und kirchliche Musikgruppen gaben mutmachende Konzerte. Aber auch harte Diskussionen um den seelsorglichen Beistand der Kirchen gab es - eine mancherorts beklagte oder zumindest so empfundene fehlende Nähe zu den Kranken und Sterbenden, vor allem in den Pflegeheimen in den ersten Wochen der Pandemie.
Bittere Zahlen für die beiden großen christlichen Kirchen kamen aus den Standesämtern dieser Republik. Noch nie haben in einem Jahr so viele Menschen den Bistümern und Landeskirchen den Rücken gekehrt. Der Mitgliederbestand wird jedes Jahr um eine Großstadt kleiner.
Die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals bleibt unzureichend
Auch ein Grund dafür: Zehn Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals fällt der Zwischenstand der Aufarbeitung weder für die evangelische noch für die katholische Kirche gut aus. Betroffene sexualisierter Gewalt wurden nicht zur digitalen Tagung der EKD-Synode eingeladen, die konsequente Einbindung von Missbrauchsopfern in kirchliche Entscheidungsprozesse und die Transparenz eben dieser Entscheidungen bleiben unzureichend. Man wünschte sich von dem EKD-Ratsvorsitzenden auf diesem Feld einen ebenso großen Einsatz wie er diesen bei der Seenotrettung im Mittelmeer eindrucksvoll an den Tag legt.
In Köln steht am Ende eines bewegten Jahres ein als großer Aufklärer angetretener katholischer Kardinal mittlerweile mit dem Rücken zur Wand, in Hamburg bemüht ein Erzbischof und früherer Kölner Generalvikar und Personalchef Rechtsexperten, weil er sich durch ein bislang nicht veröffentlichtes Gutachten zum Umgang mit zurückliegenden Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln in ein falsches Licht gestellt sieht. Das Signal: Kirche beschäftigt sich juristisch mit sich selbst anstatt demütig und konsequent die Perspektive der Betroffenen einzunehmen. Dieser Zustand ist kein guter.
Der Blick nach vorne
Dabei muss es freilich nicht bleiben. Hat das wechselvolle Geschehen dieses Corona-Jahres doch eines deutlich gemacht: Ein aktueller Zustand ist nie der Endstand. Diese Hoffnung ist seit jeher der Treibstoff von Religionen und Gesellschaften. Mal ist Abstand die neue Nähe, mal bringen uns Situationen schier um den Verstand, mal wünschen wir uns mehr Anstand, auch Beistand und mal fordern wir generell ganz neue Standards.
Wie wir zu Krisen und Herausforderungen stehen, ob wir uns auf der Überholspur des Lebens oder doch auf dem Standstreifen wähnen, ob wir etwas zustande bringen, etwas Überraschendes für uns passiert oder einfach Stillstand herrscht - das war, das ist und das wird es immer sein: eine Frage des Standpunkts.
