Unwort des Jahres: "Pushback" verschleiert die Wahrheit
Der Begriff "Pushback" wurde zum Unwort des Jahres 2021 erkoren. Es steht für die Zurückweisung von Flüchtenden an den Grenzen zu Europa. Günter Burkhardt von der Geflüchtetenorganisation Pro Asyl hat quasi täglich mit Pushbacks zu tun.
Herr Burkhardt, ist "Pushback" aus Sicht von Pro Asyl eine gute Wahl als Unwort des Jahres?
Günter Burkhardt: Es ist ein Alarmzeichen, dass an Europas Grenzen tausendfach Recht gebrochen wird, Menschen zurück in Boote geschickt werden, in Griechenland auf dem Meer ausgesetzt werden oder in Polen zurückgeprügelt werden, zurückgeschickt werden. Die Praktiken, die illegalen Handlungen sind vielfältig, die die Staaten begehen. Es muss ein Weckruf sein, damit die Praktiken aufhören, die dieses Wort kennzeichnen. Es ist ein Unwort, es ist eine Untat, es ist ein Verbrechen, und diese Verbrechen müssen aufhören.
Sie sprechen von einem Unrecht - wie kann das geschehen an den Grenzen einer rechtsstaatlichen Organisation, die da Europa heißt?
Burkhardt: Ein Schutzsuchender, beispielsweise aus Afghanistan, hat das Recht, an Europas Grenze einen Asylantrag zu stellen und zu sagen: Ich brauche Schutz. Das garantiert die EU-Grundrechte-Charta, die Menschenrechtskonvention, das Flüchtlingsrecht. Das wird verletzt, wenn die Grenzpolizei den Auftrag erhält, die Grenze dichtzumachen und Menschen wieder über die Grenze zurück zu verfrachten. Das ist ein Rechtsbruch, der aber von den EU-Staaten im Zentrum Europas toleriert wird - also auch von Polen begannen, aber von Deutschland, Frankreich und anderen nicht angeprangert. Deswegen muss jetzt alles dafür getan werden, dass die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten der EU dieses Verhalten, etwa von Polen, Kroatien oder Griechenland, sanktionieren.
Ist "Pushback" ein Euphemismus, also eine Verkleinerung, eine Verniedlichung - und damit eigentlich eine unangemessene Bezeichnung für das, was da wirklich geschieht?
Burkhardt: Es ist ein Verbrechen, was geschieht. Und insofern verschleiert "Pushback" die Wahrheit, dass in Europa Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ihren Grenzbeamten freie Hand lassen oder sie anweisen, Menschenrechte zu brechen, Schutzsuchende mit Schlagstöcken zurückzuprügeln oder Boote, die ankommen, umzudrehen und die Menschen auf offener See auszusetzen. Es sind Rechtsbrüche, die begangen werden, und da ist "Pushback" eine verharmlosende, beschönigende Verkürzung.
Wo finden gerade diese Pushbacks statt?
Burkhardt: Pro Asyl hat im Griechenland eine Partnerorganisation, die wir gegründet haben und auch finanzieren. Das ist sehr wichtig, dass diese Organisationen unabhängig sind und nicht von Staaten finanziert werden, die sie kritisieren. In Griechenland werden die Boote umgedreht, zurückgeschleppt, Menschen auf dem Meer ausgesetzt. In Kroatien prügelt der Grenzschutz Menschen zurück, die durch Wärmebildkameras - übrigens geliefert auch durch die Bundeswehr - aufgespürt werden. Und Polen hat die Grenzen geschlossen, Stacheldrähte errichtet, und dort werden Menschen mit Wasserwerfern zurückgetrieben oder gepackt, wieder illegal über die Grenze nach Belarus zurückgebracht, selbst wenn sie in Polen gewesen sind. Das alles ist illegal und wird durch diesen Begriff "Pushback" abstrahiert. Für viele Menschen ist unklar, dass das ein Verbrechen ist.
Pro Asyl hat in einer Pressemitteilung die neue Bundesregierung aufgefordert dafür zu sorgen, dass das Unwort des Jahres, also "Pushback", nicht auch zum Unwort des Jahrzehnts wird. Was erwarten Sie von der neuen Bundesregierung?
Burkhardt: Die Ampelkoalition hat klipp und klar formuliert, dass sie für Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union eintritt, dass diese Praktiken beendet werden müssen. Das heißt konkret: keine EU-Gelder mehr für Polen, Griechenland und andere, wenn diese Praktiken fortgesetzt werden. Es muss aufhören, dass deutsche Beamte im Rahmen von Frontex-Missionen im Mittelmeer aufklären - und dann die griechische Küstenwache die Boote umdreht und zurückschickt. Wir brauchen hier ein öffentliches Engagement der Bundesregierung und der anderen EU-Staaten, die für Rechtsstaatlichkeit eintreten. Aber das ist bisher nicht ausreichend zu hören. Hier müssen deutlich hörbare Signale vom Bundeskanzler, von der Innen- und von der Außenministerin kommen. Alle drei sind betroffen und alle drei müssen alle Chancen wahrnehmen, jetzt europäisch dafür zu sorgen, dass diese illegalen Pushbacks aufhören.
Das Gespräch führte Jürgen Deppe
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