Zu sehen ist die Autorin und Schrifstellerin Mithu Sanyal. © Regentaucher

Mithu Sanyal: "Samstags und sonntags sind Brüste in Ordnung."

Stand: 03.08.2022 15:00 Uhr

Auch im 21. Jahrhundert erregt die weibliche Brust noch die Gemüter - vor allem, wenn sie in der Öffentlichkeit entblößt wird! Warum ist das so? Die Journalistin und Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal hat sich mit der Debatte beschäftigt. Sie hat unter anderem über die Kulturgeschichte der Vulva promoviert.

 

NDR Kultur: Ist es wirklich Diskriminierung, wenn Frauen ihre Brüste bedecken müssen, Männer aber nicht?

Mithu Sanyal: Auf jeden Fall! Das wird ja zum Beispiel auch deutlich in diesen ganzen Richtlinien auf Instagram oder auf Facebook. Also wenn dann eine weibliche Brustwarze - ganz wichtig: nicht die ganze Brust, die Brustwarze - zu sehen ist, dann werden die Accounts ganz schnell gesperrt, während eine männliche Brustwarze okay ist. Ich kann eine weibliche Brustwarze, wenn ich die Brust drumherum nicht sehe, nicht immer von einer männlichen unterscheiden, muss ich dazu sagen. Was auch ein riesiges Problem ist: Wenn in der Öffentlichkeit gestillt wird. Also das ist in Deutschland ja relativ okay. In England ist es aber so, dass Frauen dann aus dem öffentlichen Raum verwiesen werden. Sie werden dann etwa gebeten, auf der Toilette zu stillen. Also ich möchte nicht auf der Toilette essen und hören, wie nebenan jemand irgendwie abzieht. Das wird aber Babys ohne Probleme zugemutet. Und die meisten von uns waren irgendwann mal Babys. Deshalb ist es umso absurder, dass dieser Akt, der uns wahrscheinlich alle verbindet, tabuisiert wird im öffentlichen Raum.

NDR Kultur: Ist das ein neuer Trend?

Sanyal: Auf der einen Seite ja: Wir hatten jetzt diesen Fall an diesem Schwimmbad, wo eine Diskussion dadurch angeregt wurde, dass eine Person "oben ohne" war und dann aus dem Schwimmbad verwiesen wurde, also irgendwie rausgeschmissen werden sollte. Und die gesagt hat: Ich identifiziere mich gar nicht als Frau. Das ist total spannend! Also dieselbe Brust, wenn sie als weiblich identifiziert wird, ist anstößig, aber wenn sie nicht als weiblich identifiziert wird, ist sie anscheinend in Ordnung. Die Person hat ja dann auch geklagt. Dann hat sich Oldenburg entschlossen: Wir machen das jetzt, also wir erlauben das jetzt "oben ohne", aber nur am Wochenende. Montags ist das ein Problem, aber samstags und sonntags sind Brüste in Ordnung.

NDR Kultur: Die "oben ohne"-Vorschriften für Frauen werden ja oft mit einer höheren Sexualisierung der weiblichen Brust begründet. Sehen Sie das auch so? Warum werden weibliche Brüste versteckt - männliche aber nicht?

Sanyal: Das ist überhaupt total spannend, denn es ist ja eine Entscheidung, die wir getroffen haben: Wir erotisieren die weibliche Brust, wir enterotisieren aber die männliche. Und es stimmt ja nicht: Nervenenden gibt es genauso bei Männern, die Brust ist genauso eine erogene Zone. Aber wir wir blenden das eigentlich aus. Das ist natürlich ein sexistisches Vorgehen in alle Richtungen, also auch Männern gegenüber, weil denen ja sozusagen etwas abgesprochen wird. Das merkt man ja auch zum Beispiel in der Medizin: Vorsorgeuntersuchungen für Brustkrebs gibt es bei Frauen, aber Männer können auch Brustkrebs bekommen. Da gibt es ganz wenig Forschung zu. Interessanterweise vor allem Bodybuilder, die Hormone nehmen, was sie besonders männlich machen soll. Irgendwie sorgt das dann dafür, dass sie Brüste bekommen. Eigentlich eine ganz tragische Verkettung. Weil das aber nicht in unser Bild von Männlichkeit passt, haben wir da viel zu wenig medizinische Forschung zu.

NDR Kultur: Die weibliche Brust gehört ja zu den sekundären Geschlechtsmerkmalen, die männliche nicht. Aber die Haare auf der männlichen Brust schon!

Sanyal: Ich habe auch Haare auf der Brust, auch das ist ja so interessant: Wieso muss die weibliche Brust haarlos sein? Die männliche wiederum behaart? Wir haben diese ganzen Normen und versuchen, den Menschen passend zu machen, in diese Normen hinein. Ich kann mich noch daran erinnern, als "oben ohne" relativ normal war in Deutschland, in den 80er-Jahren. In den Schwimmbädern war die Hälfte "oben ohne". Vielleicht war es auch nur ein Drittel. Aber es ist ja im Verhältnis zu heute ein riesiger Unterschied. Und auch da hat es nicht zu größeren Unruhen geführt oder so, es war halt so!

NDR Kultur: Es war ja, wie Sie auch sagen, tatsächlich nicht immer so - auch früher nicht!

Sanyal: Es gibt diese ganzen Mariendarstellungen, die dem Betrachter eine nackte Brust entgegenrecken mit der Botschaft: Mit dieser Brust habe ich das Jesuskind genährt. Oder es gibt so eine ganz tolle Heilige, die dann so eine Platte mit einer Brust vor sich herträgt und das soll bedeuten, dass sie irgendwie als Märtyrerin gestorben ist und sich die Brüste hat abhacken lassen. Das war eben nicht immer in derselben Form sexualisiert. Die Brust war immer besonders, weil sie halt lebensspendend ist, aber nicht ausschließlich erotisch, sondern irgendwie mütterlich. Auch Königin Elisabeth die Erste ist ganz häufig im Hof mit nackten Brüsten aufgetreten. Also die Virgin Queen, die jungfräuliche Königin mit ihren Brüsten, das war normal und ein Zeichen von Potenz. Historisch gab es auch dieses Brust saugen: Die Untergebenen haben die Brüste des Anführers gesaugt. Im keltischen Europa scheint das eine Tradition gewesen zu sein, was ich auch ganz toll finde! Also dieser Gedanke: von da kommt das Leben her, wir wollen es wertschätzen.

NDR Kultur: Wie kommen wir da wieder hin, dass es wieder normal wird?

Sanyal: Ich befürchte, es kommt ein wenig aus Amerika: Die auf der einen Seite die große Brust in jedem Kinofilm feiern, aber uns mitgeteilt haben wir müssen BHs tragen, ob wir sie jetzt irgendwie als Stütze wollen oder nicht, sondern um unsere Brustwarzen unter T-Shirts unsichtbar zu machen. Und das "die Brust soll unsichtbar gemacht werden", das sind tatsächlich Trends, die kommen immer langsam über England nach Europa. Lange konnte man die deutsche Touristin daran erkennen, dass sie sich die Beine nicht rasiert und keinen BH getragen hat. Ich habe noch Reisebücher aus den Achtzigern gefunden, in denen es immer erwähnt wurde. Und auch da gibt es ja inzwischen soziale Bewegung "free the nipple" und all dieses. Die eben sagen, BHs können einen Sinn haben. Aber sie haben auch bestimmte gesundheitliche Nachteile, wenn man die die ganze Zeit trägt, weil das Lymph-Wasser dann nicht so gut abfließen kann und so weiter.

NDR Kultur: Wie bewerten Sie denn die rechtliche Situation?

Sanyal: Die Situation ist total spannend, weil in Deutschland ist es nirgendwo verboten "oben ohne" schwimmen zu gehen. Also: an jedem Baggersee und so weiter darf man das. Aber Schwimmbäder, an denen sich ja die ganze Debatte aufgehangen hat, die haben einfach Hausrecht. Und das ist ganz spannend, weil man darf Hausrecht nur dann geltend machen, wenn es nicht in ein Persönlichkeitsrecht von anderen Menschen eingreift. Und das wird halt gerade im Moment ausgehandelt. Es gibt eine ganz schwammige Formulierung: Also wenn es nicht gegen die guten Sitten verstößt, sowie der Aufrechterhaltung von Sicherheit, Ruhe und Ordnung dient. Das kann jeder so ein bisschen auslegen, wie er oder sie möchte. Und deshalb, weil das so vage ist, glaube ich tatsächlich, dass die aktuelle Klage eine relativ gute Chance hat, dass das durchkommt. Diese Vorstöße, wir normalisieren es jetzt nicht, das alle es nutzen müssen, natürlich nicht, sondern das es möglich ist.

NDR Kultur: Die Debatte hat nun auch noch eine andere Dimension bekommen. Die AFD warnt davor, dass entblößte Brüste Menschen aus dem arabischen Raum brüskieren könnten. Wie erklären Sie sich das?

Sanyal: Es ist Teil dieser ganzen Debatte zu sagen, alle sexuellen Grenzüberschreitung passieren nur von "den Anderen", nämlich die muslimischen Anderen. Das ist seit Jahren ein immer wiederkehrendes Mantra, was heruntergebetet wird, was natürlich Quatsch ist. Was stimmt: jedes Land hat eine unterschiedliche Haltung zu Nacktheit und welche Teile besonders gezeigt werden dürfen, welche Teile nicht gezeigt werden dürfen. In ganz vielen Teilen der Welt ist es selbstverständlich, die Brust zu zeigen. Die würden sich wahrscheinlich eher wundern, dass wir uns hier so drüber aufregen. Es ist eben nicht so, dass der Westen die sexuelle Freiheit erfunden hat und der Nahe Osten, der ist so prüde. Das ist ein relativ neues Narrativ. Vor über hundert Jahren war es ja umgekehrt. Da war der Muslim deshalb so gefährlich, weil die so wilden Sex hatten, nämlich mit allen Geschlechtern und so weiter. Also diese Narrative haben sich ja nur verdreht. Und ich finde es tatsächlich schwierig, wenn es rassistisch aufgeladen werden soll. Es gab auch einen Artikel in der "Welt", wo eine Frau den Selbstversuch gemacht hat. Die Journalistin hat dann darüber berichtet hat, das arabisch aussehende Männer sie angestarrt hätten und sie schreibt dann einen Absatz später, das aber auch Eltern sie angestarrt hätten. Waren die Eltern jetzt auch arabisch oder vielleicht nicht? Warum wurde es an der einen Stelle erwähnt und an der anderen nicht? Ich denke, wir hören es im Moment immer wieder. Deshalb wird es uns selektiv mehr auffallen. Ich glaube, es ist aber absoluter Quatsch.

Das Gespräch führte Eva Schramm.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 02.08.2022 | 16:20 Uhr

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