Shila Behjat: "Wir stehen am Beginn der fünften Welle des Feminismus"
Die Journalistin Shila Behjat beobachtet, wie vielerorts mutige Frauen aufstehen, um gegen Diktatoren und menschenverachtende Regime zu protestieren. Im Gespräch erläutert sie ihre Beobachtungen.
Woher nehmen die Frauen die Kraft und den Mut, sich den brutalen Machthabern entgegenzustellen? Für ihr Buch "Frauen und Revolution" hat die Deutsch-Iranerin mit mehreren Revolutionärinnen gesprochen: mit der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi und der sudanesischen Aktivistin Alaa Salah. Im Gespräch beschreibt Behjat, was die aktuellen Proteste von den Bewegungen der vergangenen Jahrhunderte unterscheidet, welches Ziel sie verfolgen und inwiefern sie uns neue Perspektiven auf gelebte Gerechtigkeit und Demokratie liefern.
Frau Behjat, Sie nehmen uns mit an die vorderste Front des Widerstands gegen Diktatoren, gegen frauenfeindliche, menschenverachtende und vor allem auch gewaltvolle Regime. Es sind Revolutionen von Frauen, angeführt im Iran, im Sudan, in Belarus, in Polen und das fast zeitgleich. Das ist eine von vielen erstaunlichen Parallelen, die Sie in Ihrem Buch herausarbeiten. Wie erklären Sie sich diese Verdichtung von weiblich angeführten Protesten? Wann ist das Ihnen überhaupt aufgefallen?
Shila Behjat: Ich versuche das in meinem Buch ein bisschen herzuleiten. Ich hatte aus sehr persönlichen Gründen meiner eigenen Biografie - mein Vater kommt aus dem Iran; wir gehören dort einer sehr stark verfolgten Minderheit an - die Iran-Revolution von 2022 fasziniert beobachtet und bin dann völlig kopfüber hineingesprungen, weil es da auch zum ersten Mal darum ging, die Minderheiten in den Mittelpunkt zu stellen - und das durch diese frauengeführte Revolution. Auch als Journalistin interessiert mich so ein Phänomen, das mich persönlich bewegt. Der erste Brückenschlag, der mir aufgefallen war, war der zwischen Iranerinnen und Belarussinnen. Da gab es einmal eine ganz kleine Demo in Berlin, die die gemeinsam durchgeführt haben. Da habe ich gemerkt, dass es da viele Ähnlichkeiten gibt. Danach hat sich der Blick immer mehr geweitet, sodass ich von Iran nach Belarus und dann in den Sudan gekommen bin. Während des Schreibens für dieses Buch sind die Polinnen auf die Straße gegangen und haben letztendlich die PiS-Regierung gestürzt. Für mich waren das diese vier Bewegungen fast in einer Gleichzeitigkeit. Auch wenn wir jetzt nichts mehr von diesen Bewegungen hören - sie wirken ja immer noch, und die Akteurinnen sind immer noch wahnsinnig aktiv. Das hat mich sehr bewegt und fasziniert.
Durch die Beobachtungen der Frauenbewegung habe ich gedacht, dass das unbedingt festgehalten werden muss, dass das jetzt etwas Neues ist, dass Frauen eine ganze Demokratiebewegung anführen können. Ich erkläre mir das erstens durch den Zustand der Welt, dass wir gerade in einer Zeit leben, in der wir ohne Zweifel gerade Angriffe auf die Demokratie erleben, auch eine Rückkehr in autokratische Systeme. Ein großes Merkmal dieser Rückschritte ist oft der Angriff auf die Frauenrechte. Das trifft aber auf eine Generation Frauen, die auf den Schultern einer Frauenbewegung steht, die gerade in den letzten hundert Jahren wahnsinnige Fortschritte hinter sich gebracht hat. Frauen nicht nur als politische Akteurinnen, Frauen in Bildung, Frauen als Protagonistinnen, die in der Gesellschaft wirken - all das führt dazu, dass die Frauen heute, die auf diese Angriffe auf ihre Rechte stoßen, darauf reagieren können, agieren können und auch zeigen können, dass der Angriff auf Frauen als inzwischen gleichberechtigter Teil der Gesellschaft eigentlich ein Angriff auf Freiheitsrechte per se sind. Ich glaube, das ist der Knackpunkt dessen, warum auch Männer sich diesen Bewegungen anschließen konnten: Weil sie das verstanden haben. Der Angriff auf Frauenrechte betrifft nicht nur die Frauen - das ist immer nur ein Symptom einer Gesellschaft, die insgesamt unfrei ist.
Frauen waren schon in der Vergangenheit ganz vorne mit dabei, zum Beispiel bei der Französischen Revolution oder am 8. März 1917, als Textilarbeiterinnen die Russische Revolution in Gang gebracht haben. Inwiefern ist die weiblichen Revolution, wie wir sie heute erleben, anders geprägt?
Behjat: Am Anfang steht erst einmal die Feststellung, dass es in den letzten 200 Jahren immer Bewegungen von Frauen gab, die gleiche Rechte eingefordert haben. Es gab auch immer das Ringen um Demokratie, solange es auch ein Ringen um eine gleiche Teilhabung gab. Das lief sehr lange parallel. In diesen Demokratiebewegungen waren auch immer Frauen beteiligt, oft waren sie auch der Anstoß von Bewegungen, von Revolutionen. Aber im Verlauf wurden sie letztendlich - auch wenn diese Bewegungen erfolgreich waren - wieder von den Zugängen zur Macht ausgeschlossen, weil wir eine sehr männlich geprägte Form von Macht haben, weil wir männlich geprägte Formen und Vorstellungen von Repräsentation haben. Und diese Zäsur, die diese vier Frauenbewegungen jetzt für mich darstellen, ist, dass Frauen die Demokratiebewegungen anführen. Ganz wichtig ist dabei zu sagen, dass es all diesen Frauen nicht darum geht, am Ende frauengeführte Regierungen, Matriarchate zu schaffen, sondern das ist eben die Form, wie Revolution gemacht wird. Die kann auch mal nur von Frauen angeführt werden, und alle anderen können sich anschließen. Diese Zäsur ist für uns als Gesellschaft etwas, was ich sehr gerne festhalten wollte: dass wir auch verstehen, dass wenn Frauen Revolution machen oder sich für Demokratie einsetzen, dann ist das eben Revolution und Demokratie und nicht unbedingt etwas rein Weibliches.
Das Gespräch wurde geführt von Andrea Schwyzer. Das komplette Interview können Sie in der ARD Audiothek hören und überall, wo es Podcasts gibt.
