Gewalt gegenüber Journalisten in Deutschland hat zugenommen
Laut "Reporter ohne Grenzen" ist Deutschland in Sachen Pressefreiheit weiter abgerutscht, vor allem, weil es mehr Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten gegeben hat.
Ein Gespräch mit dem Leiter des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit, Lutz Kinkel, der diese Zahlen jährlich in einer Studie berechnet.
Herr Kinkel, 83 Fälle haben Sie im Jahr 2021 registriert - über welche Taten sprechen wir hier?
Lutz Kinkel: Die tätlichen Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten finden zum allergrößten Teil während Demonstrationen statt. Das ist in 75 Prozent der Fälle so. Wir erleben vor allen Dingen, dass Personen, die sofort als Journalistin oder Journalist identifiziert werden können, angegriffen werden, bespuckt, getreten, eingeschüchtert und beleidigt werden. Das ist leider zu einem "normalen" Phänomen geworden.
Nehmen diese Fälle zu, weil es insgesamt mehr solcher Proteste im vergangenen Jahr gegeben hat, Stichwort "Querdenker" zum Beispiel? Oder werden die einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewaltbereiter?
Kinkel: Es gibt zwei Entwicklungen, die besorgniserregend sind. Die Zahl der Proteste hat insgesamt zugenommen. Es gilt die Faustformel: Je mehr Proteste es gibt, desto mehr Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten gibt es auch. Die Zahl hat auch deswegen zugenommen, weil es inzwischen viele unangemeldete Demonstrationen gibt, etwa die sogenannten "Spaziergänge". Wenn diese stattfinden, ist nicht überall die Polizei vor Ort und kann deswegen auch nicht die Medienschaffenden schützen.
Das zweite Problem ist, dass die Täter nicht mehr so leicht zu identifizieren sind. Früher war es relativ klar, wer die Presse attackiert. Das waren vornehmlich Rechtsradikale, die schon äußerlich und an ihrem Habitus zu erkennen waren. Das ist heute nicht mehr der Fall. Die überwiegende Zahl der Attacken kommt aus der Masse der Demonstrierenden heraus. Das können auch Leute sein, die sich bürgerlich geben, zum Beispiel Rentnerinnen oder Rentner. Das macht es für Journalistinnen und Journalisten besonders gefährlich, weil sie nicht von vornherein die Gefahr abschätzen können.
Gibt es auch generell eine Entwicklung, dass da womöglich Hunderttausende unterwegs sind, die zwar direkt keine Gewalt ausüben, die aber Pressevertreterinnen und -vertreter mehr und mehr als Feindbild sehen?
Kinkel: Wir glauben, dass das etwas zu tun hat mit der Verbreitung von Verschwörungserzählungen. Es gibt verschiedene Verschwörungserzählungen, aber in einem Punkt treffen sie sich alle: in der Konstruktion des Feindbildes "Journalist". Die Verschwörungen über Journalistinnen und Journalisten gehen so, dass Medienschaffende Agenten des Systems sind, dass sie unter einer Decke mit der Politik stecken, dass sie bestimmte Narrative verbreiten und das Volk angeblich belügen, betrügen und verhöhnen. Sie sind deswegen die Feinde, weil sie nicht "die Wahrheit" sagen. Die Menschen, die den Verschwörungserzählungen anhängen, glauben ja, im Besitz der Wahrheit zu sein. Deswegen glauben sie, dass diese Wahrheit unterdrückt wird, und deswegen halten sie Reporterinnen und Reporter für Feindbilder.
"Hass vor der Haustür" heißt diese Studie. Kann man sagen, dass es vor allem Lokalreporterinnen und Lokalreporter von nebenan trifft?
Kinkel: Die Lage ist besonders schwierig für lokale Kräfte, weil sie nicht ausweichen können. Sie können nicht abtauchen in die Anonymität der Großstadt, sondern sie sind gezwungen, mit diesen Menschen zusammenzuleben und denen zu begegnen, die sie eventuell zuvor attackiert haben. Das ist eine schwere psychische Belastung, und es ist nur verständlich, dass der Job auf dieser Ebene, also im Regionalen und Lokalen, auch deswegen immer unattraktiver wird.
Wirkt sich das auch auf die Berichterstattung aus, dass die Betroffenen nicht mehr über bestimmte Themen berichten wollen?
Kinkel: Wir können keine repräsentativen Aussagen machen aus den Daten, die uns vorliegen. Aber verschiedene Journalistinnen und Journalisten sagen, dass sie nicht mehr auf Demos gehen und keine Protestberichterstattung mehr machen, weil es ihnen zu gefährlich ist und weil nicht nur sie bedroht werden, sondern auch ihre Familien. Wenn sich Journalistinnen und Journalisten von dieser Protestberichterstattung zurückziehen, dann entstehen irgendwann blinde Flecken, weil sie nicht für sich alleine oder nur für ihr Medium da sind, sondern sie sind für uns alle da. Sie sind unsere Augen und Ohren.
Was könnte der Staat tun, um sie besser zu schützen?
Kinkel: Es gibt verschiedene Maßnahmen, die man ad hoc ergreifen kann. Eine ist, sich dem Schutzkodex für Medienhäuser und Verlage anzuschließen. Die zweite Maßnahme wäre, wenn sich die Innenministerkonferenz jetzt mal durchringen könnte, die Verhaltensgrundsätze des Referates zum Umgang zwischen Polizei und Medien zu verabschieden. Das wäre eine Grundlage, die das Verhältnis zwischen Polizei und Medien nochmal stärker entspannen würde, als es bisher der Fall ist. Eine dritte Maßnahme wäre, die Medienkompetenzkunde an Schulen zu forcieren. Wir glauben, dass Schülerinnen und Schüler wissen müssen, was eine Information, was eine Desinformation ist, was eine verlässliche Quelle und was eine Verschwörungserzählung ist. Wie kann ich das identifizieren und wie kann ich mir eine Meinung bilden, die von Fakten gesättigt ist?
Würden Sie so weit gehen zu sagen, dass die Pressefreiheit auch bei uns strukturell gefährdet ist, weil der Staat zwar nicht, wie in anderen Ländern, die freie Presse aktiv unterdrückt, aber weil er sie einfach nicht genug schützt?
Kinkel: Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" hat darauf hingewiesen, dass wir eine Gesetzgebung haben, die den Quellenschutz in Deutschland gefährdet. Die Bundesregierung setzt auch "Pegasus" ein - nicht notwendigerweise gegen Journalistinnen und Journalisten, aber die Geheimdienste haben weitgehende Kompetenzen. Wir haben auch das Problem, dass die Bundesregierung die Whistleblower-Direktive noch nicht komplett umgesetzt hat. Und wir hoffen, dass die Bundesregierung etwas schneller handelt im Bezug auf die Anti-SLAPP-Direktive, eine Direktive der Europäischen Union gegen den Missbrauch von Gesetzen, die Journalisten bedrohen.
Das Interview führte Jan Wiedemann.
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