Ein Ermittler eines internationalen Forensik-Teams steht neben Leichensäcken. © picture alliance/dpa/ZUMA Press Wire Foto: Carol Guzy

Putins Krieg und das Völkerrecht

Stand: 24.06.2022 14:36 Uhr

von Horst Meier

Strafgerichtshof könnte internationalen Haftbefehl gegen Putin erlassen

Das humanitäre Völkerrecht basiert auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten. Es definiert Kriegsverbrechen als Gewalt gegen Unbewaffnete, etwa die Misshandlung und Tötung, die Zerstörung von Schulen und Krankenhäusern, die Bombardierung von Wohngebieten, Raub und Plünderung, Vergewaltigung und Verschleppung. Kurz: Das Völkerrecht sanktioniert die Entgrenzung militärischer Gewalt, die über das im Krieg Zulässige hinausgeht.

Der Strafgerichtshof ist in diesen Fällen zuständig. Denn es genügt, dass die mutmaßlichen Kriegsverbrechen auf dem Territorium der Ukraine verübt werden. Ermittlungen können sich also auch gegen die Angehörigen eines Nichtvertragsstaates richten. Und zwar gegen alle Soldaten der russischen Streitkräfte bis hin zu deren Oberbefehlshaber. Präsident Putin, dem als Staatsoberhaupt Immunität zusteht, könnte sich in dieser Konstellation nicht darauf berufen. Denn der Strafgerichtshof in Den Haag soll ja gerade die gemeingefährlichen Formen von Staatskriminalität verurteilen, die von höchster Stelle angeordnet werden. Daher könnte der Gerichtshof, eine fundierte Beweislage vorausgesetzt, selbst gegen Präsident Putin einen internationalen Haftbefehl erlassen. Mit der Folge, dass alle Vertragsstaaten diesen vollstrecken müssten. Nun gut, das würde fürs Erste nur die Reisefreiheit des mutmaßlichen Kriegsverbrechers einschränken, hätte jedoch darüberhinaus eine politische Warnfunktion und würde zu seiner Isolierung beitragen.

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Widersprüche des Völkerrechts

Wer Antworten auf die eingangs gestellte Frage sucht, wie die für Angriffskrieg und Kriegsverbrechen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden könnten, der stößt bald auf allerhand Schwächen und Widersprüche des Völkerrechts. Es spricht von "Weltfrieden" und weckt hochfliegende Hoffnungen, es bereitet aber auch herbe Enttäuschungen. Das ist freilich kein Grund, einem vermeintlich aufgeklärten Zynismus zu verfallen, der die internationalen Beziehungen auf blanke Macht reduziert. Das heutige Völkerrecht ist nicht "zahnlos". Es reflektiert allerdings die globalen Machtverhältnisse, wie sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet haben. Der große Fortschritt der UN-Charta von 1945 besteht darin, dass sie das seit jeher uneingeschränkte Recht des Staates, Krieg zu erklären, auf den Verteidigungsfall beschränkt. Und das Vermächtnis der Militärtribunale von Nürnberg und Tokyo besagt, dass keine Staatsführung ungestraft Frieden und Menschenrechte mit Füßen tritt. Weil es nun aber keinen omnipotenten "Weltstaat" gibt, ist und bleibt das Völkerrecht darauf angewiesen, dass starke Mächte es von Fall zu Fall durchsetzen. Punktuelle Gerechtigkeit der "Vereinten Nationen" ist besser als gar keine.

Eine zweite russische Revolution als einzige Perspektive

Bei allem Nachdenken über die Verantwortung der Völkergemeinschaft sollte man schließlich eines nicht vergessen: die ureigene Verantwortung des russischen Volkes. Die UN-Charta bekräftigt das Recht jeder Nation, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu bestimmen. Reifer Ausdruck dieser Selbstbestimmung wäre zweifellos der Sturz des Putin-Regimes: eine Revolution der Freiheit und Menschenwürde, des Pluralismus und der rechtsstaatlichen Transformation. Ja, das ist Zukunftsmusik. Nach allem, was wir heute wissen, ist gar nicht abzusehen, wann sich das russische Volk als Subjekt seiner Geschichte emanzipiert, und ob es das Joch der Diktatur abschütteln kann. Und doch bietet eine zweite russische Revolution langfristig die einzige Perspektive, sich selbst aufzuklären und das imperiale Machtstreben aufzugeben. Nur ein demokratisches Russland wird mit seinen Nachbarn dauerhaft Frieden schließen, nur ein freies Land der Sache der "Vereinten Nationen" verlässlich dienen. Ob Putin dann, eines schönen Tages, in Den Haag oder gar in Moskau auf der Anklagebank sitzt oder am Ende unbehelligt im Amt stirbt, bleibt eine spannende Frage.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 25.06.2022 | 13:05 Uhr

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Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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