Martin Tschechne © Sinja Schwarz Foto: Sinja Schwarz

Wir müssen reden! Freies Sprechen als Grundtechnik der Demokratie

Stand: 02.07.2022 09:03 Uhr

Manchmal hat man den Eindruck, dass der Ruf nach einer besseren Diskussionskultur in den unendlichen Weiten des digitalen Raums verhallt. Es wird kurzatmig gestritten und gegiftet.

von Martin Tschechne

Auch die politische Bühne wird keineswegs immer ideal bespielt. Dabei heißt das Parlament Parlament, weil geredet wird. Wenn aber die Kunst freier Rede meistenteils hinter Telepromptern und Manuskripten verschwindet, bleibt von ihr nur ein Schatten. Und wo die Redekunst verkümmert, geht auch das Denken in Fesseln spazieren. Ob das böse Absicht ist oder dem Bedürfnis entspringt, die Gedanken zu glätten, sie unter Kontrolle zu halten: Wer weiß. Freier Austausch von Argumenten setzt jedenfalls Augenhöhe voraus. Deshalb ist es auch eine gute Idee, ihn früh zur Gewohnheit zu machen. Darüber hat der Publizist Martin Tschechne im Mai 2018 nachgedacht - seine Gedanken sind unverändert aktuell.

Es siegt das besser begründete Argument

Die Regeln sind ganz einfach, aber doch so ungewohnt, dass sie niedergeschrieben und immer wieder neu eingeübt werden müssen. Regel Nummer eins: Die Debatte folgt keiner Frage, sondern einer zugespitzten These. Also nicht: Welche Rolle spielen die Religion, der Datenschutz oder der öffentliche Nahverkehr in unserer Gesellschaft? Sondern: Ohne A, B oder C wären wir alle besser dran. Oder schlechter, je nachdem. Das legt nämlich die Regel Nummer zwei fest: Jeder Teilnehmer des Disputs nimmt einen Standpunkt ein, begründet ihn, baut ihn aus, verteidigt ihn - und überlässt die Gegenrede den Vertretern der jeweils anderen Seite. Wie im Sport. Am Ende wird ein Strich drunter gemacht; es siegt das bessere, besser begründete Argument.

Rede und Gegenrede

So war es auf der Agora üblich, dem Marktplatz im alten Griechenland, über den die großen Denker ihrer Zeit schlenderten, um im Plauderton das Gespräch mit ihren Mitmenschen zu suchen. Im freien Austausch von Rede und Gegenrede legten sie das Fundament der europäischen Geistesgeschichte, begründeten die Idee der Demokratie und entwarfen ein Bild vom Menschen, das jedem seine eigene Position zubilligt. Sokrates, so berichten seine Schüler, behielt zwar am Ende fast immer die Oberhand. Aber den Gewinn an Erkenntnis - den trugen seine Mitbürger und die Nachwelt davon.

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Und so fordert es auch die Tradition in den angelsächsischen Ländern, in denen Debatte und Diskurs noch immer als Formen der Kunst gepflegt werden - wie die Kunst des Dramas oder die der musikalischen Komposition. Wer sich, nur nebenbei, fragt, woher etwa der berühmte britische Humor kommt oder die amerikanische Obsession mit Schauspiel und Inszenierung, der könnte im kunstvollen Auseinanderrücken von Person und Argument schon den Ansatz einer Erklärung entdecken: Es liegt ein Spiel darin. Keiner setzt sich gleich mit seiner Rolle, und jeder ist sich dieser Unterscheidung auch bewusst. Das muss man lernen und einüben - wie lateinische Vokabeln oder den Flohwalzer auf dem Klavier. Aber der Stundenplan lässt den nötigen Raum dafür, von der 'Elementary School' bis zum Examen als Lehrer oder Rechtsanwalt oder dem 'method acting', dem Schauspielunterricht auf dem Broadway. So weit liegt das alles ja nicht auseinander. In England oder den USA jedenfalls käme kein Student auf die Idee, sein oder ihr Referat von einem Manuskript ablesen zu wollen!

Die Welt als 'Cosmopolis'

Nun ist die Welt kein Dorf mehr, kein 'global village', wie der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan den Endpunkt einer Entwicklung bezeichnete, in deren Verlauf erst der Buchdruck und schließlich Rundfunk und Fernsehen den Globus zur Größe eines Dorfplatzes, einer Agora der Antike schrumpfen ließen. Wer live mit Panama oder Polynesien verbunden ist, für den spielen Entfernungen keine Rolle mehr.

Aber nein, korrigiert ihn mehr als 50 Jahre und eine neuerliche, nämlich die digitale Revolution später der britische Historiker Timothy Garton Ash: McLuhans Metapher habe sich überlebt. Ein Dorf ist viel zu klein, die Bewohner sind einander bekannt und vertraut; es herrscht dort eine fast schon idyllische Nachbarschaft. Leider sehr weltfremd. Garton Ashs Gegenmodell - für das er, nebenbei, im vergangenen Jahr mit dem Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet wurde: die Welt als Ort, in dem die Massen sich drängen, Meldungen und Meinungen sich in schneller Taktung überstürzen, als globale Riesenstadt, die Welt als 'Cosmopolis'.

Erstens Kompetenzen, zweitens Moral

Die Idee der Vernetzung, der globalen Gleichzeitigkeit, der vielfältigen und in alle Richtungen wirkenden Abhängigkeiten also blieb in dem revidierten Bild erhalten. Nur von dörflicher Überschaubarkeit, gar Beherrschbarkeit kann in Zeiten der Internet-Konzerne und ihrer lernenden Algorithmen, in Zeiten der konzertierten Angriffe durch Hacker, Bots und Trojaner längst keine Rede mehr sein. Was in der globalen Großstadt die Beziehungen der Menschen definiert, ist die komplette, von allen Regeln und aller Rücksicht befreite Transparenz und damit - kein Widerspruch! - Austauschbarkeit und Anonymität. Wer seinen Alltag mit einem sprechenden und auf jede Äußerung antwortenden Computer teilt, der stellt seine Individualität zur Disposition und macht sich zu einer Art Außenposten eines Rechnerprogramms.

Was daraus folgt, als Forderung wie als Versprechen, ist die Freiheit der Rede - und die Erkenntnis, dass jede Freiheit Hege und Pflege braucht, wenn sie sich nicht sehr schnell in ihr Gegenteil verkehren soll. Also Regeln, Sanktionen, vor allem aber die Reife derer, die sie genießen. Das heißt konkret: erstens Kompetenzen und zweitens Moral.

Darf also jeder jeden aus seinem Versteck irgendwo im Dschungel der digitalen 'Cosmopolis' angreifen, bedrohen und beleidigen? Nein, natürlich nicht! Darf ein Kabarettist das Oberhaupt eines fremden Staates verspotten und verhöhnen? Dürfen Karikaturen eines Propheten eine ganze Religionsgemeinschaft lächerlich machen? Wie kann und wie darf sich diese Gemeinschaft dagegen zur Wehr setzen? Und welche Entschädigung steht einem Mann zu, der sein Geld zwar mit Klamauk und öffentlicher Provokation verdient, viel Geld, sich aber eines Tages auf einem frei zugänglichen Video im Internet wiederfindet beim Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau des Nachbarn?

Im Fall des amerikanischen Berufsringers Hulk Hogan erkannte das Gericht auf 140 Millionen Dollar. Die Internet-Plattform ging daran kaputt, was vielleicht kein so großer Verlust ist. Aber die anderen Fragen erfordern deutlich komplexere Antworten.

Ein hoher Preis

Denn die Freiheit der Rede hat ihren Preis. Er ist zu bezahlen in Abstrichen von dem, was sich manch einer an öffentlicher Ordnung wünscht, an Respekt, sogar an Sicherheit; er bedeutet Verzicht auf vieles, was einer unter gutem Geschmack verstehen mag, unter Kultur oder der gebotenen Rücksicht gegenüber Minderheiten. Die Gesamtheit der freien Rede umfasst auch die schlechte, dämliche, vulgäre, hasserfüllte oder absichtlich falsche Äußerung. Oder das Gedicht an der Berliner Hauswand, in dem das Wort "Blumen" neben dem Wort "Frauen" vorkommt, woraus sich - allerdings nur bei sehr hoher sprachlicher Sensibilität - der Verdacht von Frauenfeindlichkeit herleiten lässt.

Die Freiheit der Rede hat große Gedanken großer Frauen und Männer verbreitet, aber auch einen Donald Trump möglich gemacht. Sie schließt sogar die paradoxe Freiheit ein, nach ihrer eigenen Begrenzung zu rufen, nach Einschränkung der Pressefreiheit, Verbot und Zensur. Und sie wurde unlängst selbst zum Thema - als nämlich Schriftsteller öffentlich darüber stritten, ob Intellektuelle in Deutschland sich nur in einem eng gefassten Gesinnungskorridor bewegen dürften, oder ob es vielleicht mal geboten sei, sich aus der Komfortzone von Gereiztheit und Wehleidigkeit heraus in einen offenen Diskurs zu begeben. "Wer sich öffentlich äußert", so notierte ein kluger Beobachter, "der muss damit rechnen, dass ihm widersprochen wird. Wer das abschaffen will, schafft zugleich die öffentliche Debatte ab und erzeugt Stickluft oder Belanglosigkeit."

Das Gedicht mit den Blumen und den Frauen übrigens wurde inzwischen überpinselt.

Am Anfang steht die Grundtechnik

Kompetenz also. Umgangsformen. Formen für den Umgang mit einer Redefreiheit, die auch für die Gegenseite gilt und trotzdem - oder gerade deshalb - eher sehr weite als enge Grenzen braucht. Viel von dieser Kompetenz ist nicht zu erleben, wenn sich die Teilnehmer einer Debatte über Gesinnungsdruck und Opferrolle eher belauern als einander zuzuhören. Wenn Fragen an ein Gegenüber durch Unterstellungen ersetzt werden. Oder wenn bei Maischberger oder Anne Will die Vertreter von Verbänden und Parteien auf den flachen Fauteuilles herumsesseln und sich vor allem in der Fähigkeit messen, wer am hartnäckigsten weiterredet, wenn der Interessenvertreter des jeweils anderen Verbandes seinen Gegentext heruntertextet.

Natürlich genügen die überschaubaren Fertigkeiten der Agora nicht, um sich gegen Hass und organisierte Hetze in den sozialen oder asozialen Medien zu wappnen. Aber am Anfang von Diskurs und Demokratie steht nun mal die Grundtechnik. In Berlin ist es die Gattin eines Diplomaten, die aus ihren Beobachtungen vom internationalen Parkett eine Geschäftsidee entwickelt hat, die dem Disput einfache Regeln vorgibt und ihn als Spektakel auf die Bühne bringt - sicherlich auch, um tatsächlich Argumente über die Risikoscheu der Deutschen oder den Wert von Treue auszutauschen, vor allem aber, um zu zeigen, wie es funktioniert: So geht streiten! Inzwischen steht auch bei uns die freie Debatte auf dem Stundenplan vieler Schulen. Und während mancher Helikopter-Elternteil sich noch fragen mag, worin denn wohl der Sinn liegt, nur mal aus Gründen der rhetorischen Ertüchtigung einen ganz und gar fremden Part einzunehmen, können sich die Nachwuchskräfte der Redekunst darauf freuen, mit ihren neu erworbenen Fähigkeiten vielleicht schon bald die Arena der Demokratie zu betreten.

Wiederholung der Sendung vom 13. Mai 2018

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 02.07.2022 | 13:05 Uhr

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Kulturpolitik

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