Ukraine-Krieg: "Ich habe seit fast 80 Stunden nicht geschlafen"
Die aus der Ukraine stammende, jetzt in Österreich lebende Schriftstellerin Tanja Maljartschuk wurde 2018 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet. Im Gespräch verrät sie, wie sie den Krieg in ihrer Heimat erlebt.
Frau Maljartschuk, was empfinden Sie, wenn Sie die Nachrichten aus Ihrer Heimat hören, sehen, lesen?
Tanja Maljartschuk: Das ist das Schrecklichste, was ich in meinem Leben erlebe, ganz deutlich. Ich dachte, Februar 2014 wäre die schlimmste Zeit - aber nein, ich habe mich geirrt. Allerdings hätte man damals schon ahnen können, dass es so kommen wird, dass die Ukraine noch nicht frei ist. Millionen von Menschen sitzen im Moment im Bunker, in U-Bahn-Stationen, sie fliehen, sie kämpfen. Das ist eine Katastrophe. Für mich als Ukrainerin ist es unglaublich schwer, das anzusehen, weil es so unglaublich unfair ist. Ich sehe auch diese Menschen, die so mutig ihr Land verteidigen. Diesen Mut muss man erstmal haben. Ich bin eine so ängstliche Person, ich könnte das nie machen. Ich bewundere diese Menschen.
Haben Sie Kontakt mit Menschen vor Ort? Es gibt noch einen Teil Ihrer Familie, der in der Ukraine lebt, viele Freunde, viele Bekannte. Was hören Sie von dort?
Maljartschuk: Ich bin ständig in Kontakt mit vielen Menschen. Meine Freundin ist in der Nacht mit ihrem Sohn aus der Nähe von Kiew geflüchtet, wo schwere Kämpfe waren. Gott sei Dank ist ihr nichts passiert. Ich habe die ganze Nacht über nachgefragt, wie es ihr geht. So habe ich versucht, mehrere Menschen zu unterstützen. Das war meine Pflicht von hier aus, aus diesem schönen Land, wo ich jetzt lebe. Meine Eltern bleiben jetzt in der Westukraine. Ich wollte natürlich, dass sie auch zu mir nach Österreich kommen. Ich habe mehrere Gespräche geführt, weil ich an das Schlimmste glaube, aber meiner Mutter hat zu mir gesagt, dass sie dort bleibt, wo ihre Toten liegen. Entschuldigung, ich muss wieder weinen, aber das ist ganz normal, ich weine jetzt die ganze Zeit.
Ich habe seit fast 80 Stunden nicht geschlafen, weil man Angst hat einzuschlafen. Man hat Angst aufzuwachen, weil man nicht weiß, welche Nachrichten man dann liest. Das ist das Schlimmste. Jeden Tag gibt es ein bisschen Hoffnung und dann passiert plötzlich wieder das Schlimmste. Diese Berg- und Talfahrt die ganze Zeit, man ist ständig mit dem Tod konfrontiert. Das ist das, was ich am wenigsten ertragen kann. Mein Mann muss ständig daran denken, dass es um so viele Menschenleben geht. Man hat Bezug zu diesen Menschen, man ist mit ihnen in Kontakt - das sind meine Eltern, das sind Freundinnen, Freunde von Freunden. Krieg - das ist doch furchtbar!
Was passiert mit dem Land, wenn so viele Menschen es jetzt verlassen?
Maljartschuk: Ich würde sagen, dass das der Plan war, dass viele Menschen das Land verlassen und Angst bekommen. Obwohl alle darauf gewartet haben, hat niemand wirklich daran geglaubt, dass der Angriff stattfindet. Ich hatte keinen Zweifel, dass das stattfindet. In der Nacht davor habe ich nicht geschlafen. Ich habe gewusst, dass es passiert. Und als es passierte, war das ein Schock für alle. Ukrainer sind keine Krieger. Sie sind manchmal doch sehr große Helden, wie jetzt zum Beispiel, aber sie sind von Natur aus keine Krieger. Sie wollen keinen Krieg, sie sind friedliche Bauern, die Lieder singen und Speck essen. Und plötzlich passiert so etwas und es herrscht eine große Angst für die Kinder, für die Frauen. Man weiß ja nicht, was passiert, welcher Plan dahinter steht. Wir sehen, dass der Plan schrecklich war: Der Plan war, das ganze Land in Flammen aufgehen zu lassen. Natürlich sind alle geflüchtet.
Was erwarten Ukrainerinnen und Ukrainer jetzt vom Westen? Im Grunde sind wir dazu verdammt, Beobachter zu sein. Aber was könnten wir tun?
Maljartschuk: Noch nie hat die Ukraine eine so dermaßen große Solidarität bekommen. Es war noch nie so wie jetzt. In Österreich, wo ich lebe, ist es unglaublich, wie viele Menschen sich solidarisch zeigen. Ich bekomme fast hundert Mitteilungen pro Tag, weil ich die einzige Ukrainerin bin, die sie kennen. Sie wollen mir ihre Betroffenheit aussprechen. Das ist mir auch schon zu viel, weil ich keine Kraft habe. Ich muss die Ukraine unterstützen und nicht diejenigen, die jetzt auch Angst bekommen. Die hätten auch früher ahnen können, was passiert. Nicht nur die Ukrainer sind Opfer von Putin, sondern alle in Westeuropa. Die sind auch nicht in Sicherheit, niemand ist in Sicherheit. Ich glaube, dass die Politiker und Diplomaten schon eine Ahnung haben, was sie machen sollen: Sie sollen jetzt so viel Druck machen, dass das Regime von Putin wirklich wackelt, dass er selbst Angst bekommt. Anders kann man mit solchen Aggressoren nicht umgehen. Natürlich muss man auch mit allen Mitteln sprechen, aber man darf auch keine Angst zeigen. Ansonsten sind sie alle verloren.
Das Gespräch führte Jürgen Deppe
