Ukraine-Konflikt: Gehörte die Ukraine historisch zu Russland?
Russlands Präsident Putin hat die Separatistengebiete in der Ostukraine anerkannt. Er rechtfertigt diesen Schritt, indem er sagt, die Ostukraine gehöre historisch zu Russland. Ist das tatsächlich so? Fragen an den Publizisten und Historiker Gerd Koenen.
Herr Koenen, was ist dran an Putins Aussage, die Ostukraine gehöre historisch zu Russland?
Gerd Koenen: Dann gehört der Großteil der Schweiz und Österreich auch historisch zu Deutschland. Da sind wir in ganz seichten Gewässern, das ist so eine großrussische Volkstumspolitik. Aber in dem Fall ist es ja spezifischer, weil diese Gebiete der Ostukraine, wo eine russischsprachige, aber noch längst nicht russische Bevölkerung lebt, jedoch teilweise mit vielen Verbindungen nach Russland, nicht unbedingt die Bevölkerung ist, die historisch dort immer gelebt hat. Das waren zum Beispiel auch die Gebiete des großen Hungers in der Ukraine Anfang der 30er-Jahre, wo Millionen Menschen gestorben sind. Es gab also einen Bevölkerungsaustausch, wie auf der Krim übrigens auch.
Und zweitens: Was ist Russland? Russland war früher das Russländische Imperium, in dem die Russen als Ethnie, wenn man sie überhaupt so definieren kann, immer eine Minderheit waren, wie in der Sowjetunion auch. Insofern hat sich dieses große Vielvölkerreich, wie schon 1917 nach dem Sturz des Zarentums, in historische Bestandteile zerlegt. Da gab es auch schon diesen ukrainischen Staat; der ist dann überrollt worden. Putin und die russischen Nationalisten sagen jetzt, diese ganze Ukraine sei eine Erfindung Lenins. Damit hat Putin eigentlich seine Karten auf den Tisch gelegt: Die Ukraine als Staat gebe es überhaupt nicht.
Wie eigenständig war beziehungsweise ist die Ukraine? Putin hat ja in seiner Rede der Ukraine die Staatlichkeit und eine eigene Geschichte abgesprochen.
Koenen: Man muss jetzt nicht so überrascht sein. Putin hat alle möglichen Tricks, er lügt der Welt offen ins Gesicht, wie im Fall der Krim-Annexion: Da waren es irgendwelche grünen Männchen oder so. Aber die Sache selber hat er ja lange ausgesprochen: Die Ukrainer gebe es eigentlich nicht. Es gibt historisch gesehen Großrussen, Russen, Weißrussen und Kleinrussen. Die Ukrainer sind Kleinrussen - aber das ist so eine großrussische Volkstumskategorie aus der alten Zarenzeit, die dem nicht gerecht wird, dass die Ukrainer sehr wohl als ein bäuerliches Volk ihre bäuerliche ukrainische Volkssprache gehabt haben. Sie hatten auch eigene Kultur. Und nicht zufällig, als 1917 das große zaristische Vielvölkerreich auseinanderfiel, hat sich eine Ukraine sofort für selbstständig erklärt. Da müssen schon historische Divergenzen gewesen sein, die von Moskau aus nicht zu beherrschen waren. Das ist diese Moskau-zentrische Sicht, dass alles, was da drumherum ist, eigentlich zur russischen Welt gehört.
Der Osten der Ukraine ist ja schon seit acht Jahren umkämpft. Jetzt will Putin die Verantwortung Russlands in diesem Gebiet ausbreiten. Wie sehr hat er sich denn in den letzten Jahren gekümmert?
Koenen: Indem er eine Riesenbrücke zur Krim gebaut hat, da die Krim eigentlich ihren Landanschluss und ihre Versorgungsleitungen an die Ukraine hat. Aber vielleicht sollte man mal erwähnen, dass die Auseinanderlegung der Sowjetunion 1991/92 in geradezu wundersamer Weise relativ friedlich erfolgt ist und in der Ukraine ein Referendum mit großen Mehrheiten für die Unabhängigkeit stattfand - und das auch unter der russischsprachigen Bevölkerung im Osten der Ukraine. Das will Putin jetzt nicht anerkennen, er sagt, das hätte gar nicht passieren dürfen. Dann heißt das eben, dass es die Ukraine nicht gibt, und eigentlich könne er sie einkassieren. Es kann zum Beispiel aber auch auf eine Spaltung hinauslaufen - das hat er auch schon gesagt. Der Süden sei eigentlich Neurussland, sei neu besiedelt worden. Das sind alles sehr zweifelhafte historische Titel. Er redet ja immer von tausendjähriger Geschichte, aber damals gab es noch überhaupt kein Moskau. Wenn schon, dann müsste sich Moskau Kiew anschließen und nicht umgekehrt. Wo sind wir da angelangt, wenn wir in diesen tausendjährigen Titeln reden? Das hat im Deutschen aus gutem Grund einen sehr, sehr schlechten Klang.
Welche Verantwortung, welche Möglichkeiten hat jetzt Deutschland? Reicht es, konsequent zu sein und Nord Stream 2 aufzukündigen, wie es Olaf Scholz jetzt gemacht hat?
Koenen: Nein. Da wird er uns ein bisschen das Gas abdrehen, das hat er auch schon gesagt. Wie im russischen Märchen: Wenn das Hänschen nicht hören will, dann muss es ein bisschen in der Kälte stehen. Das werden sie jetzt ein bisschen an uns probieren und die Gaspreise noch ein bisschen treiben. Rein technisch wäre Nord Stream 2 nicht notwendig gewesen. Es war immer ein geopolitisches Projekt. Durch die Ukraine, durch die Jamal-Pipeline, durch Nord Stream 1 kam genug Gas hierher.
Nein, das wird nicht nur nicht reichen - er wird sowieso durch Sanktionen nicht zu beirren sein. Mal abgesehen davon, was der Bremer Völkerrechtler Luchterhand richtig gesagt hat: Schon die Bedrohung eines souveränen Staates, dessen Unabhängigkeit Russland ja anerkannt hat, der seine Atomwaffen 1994 verschrottet hat für die Anerkennung seiner Unabhängigkeit durch Russland, ist ein Bruch des Völkerrechts. Das müsste mindestens auf dieser Seite mal klar gesagt werden. Was wir dann tun können, ist eine zweite Frage.
Das Gespräch führte Andrea Schwyzer
