José Saramago © Effigie/Leemage
José Saramago © Effigie/Leemage
José Saramago © Effigie/Leemage
AUDIO: Querkopf und Revolutionär: Zum 100. Geburtstag von José Saramago (6 Min)

Querkopf und Revolutionär: Zum 100. Geburtstag von José Saramago

Stand: 16.11.2022 12:51 Uhr

Vor 100 Jahren wurde José Saramago geboren. NDR Kultur Literaturredakteur Jürgen Deppe erinnert sich im Interview an ein Treffen mit dem Literaturnobelpreisträger 1998 auf Lanzarote.

Am 16. November 1922 wurde weit draußen auf dem Lande nordöstlich von Lissabon der kleine José de Sousa geboren. Sein Vater, ein landloser Landarbeiter, trug den Spitznamen "Saramago" - wie eine unkrautige Feldpflanze, von der sich arme Leute ernährten. Der Standesbeamte hängte den väterlichen Spitznamen "Saramago" klammheimlich an den Taufnamen des kleinen José an - und so hieß der Junge, der dann 76 Jahre später als reifer Mann mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet werden sollte, sein Leben lang José Saramago. NDR Kultur Literaturredakteur Jürgen Deppe hat ihn kurz vor der Nobelpreisverleihung 1998 auf Lanzarote besucht, wo der Portugiese in so einer Art selbstgewähltem Exil lebte.

Warum das "Exil" auf der Kanareninsel?

Jürgen Deppe: Weil er ein Querkopf war - immer schon! Und als solcher ist er im Laufe seiner ohnehin ziemlich verschlungenen Schriftstellerkarriere ein ums andere Mal mit den Obrigkeiten aneinander geraten - sei’s der staatlichen oder (was in Portugal ja fast noch stärker ins Gewicht fällt) der katholischen. Saramago, der ja aus einfachsten Verhältnissen stammte - der Vater konnte kaum lesen, die Mutter gar nicht -, war eingefleischter Klassenkämpfer. Was im Portugal der faschistischen Salazar-Diktatur lebensgefährlich war! Von ganz unten kommend hat er als KFZ-Mechaniker angefangen und ist dann auf der Industriefachschule überhaupt zum ersten Mal mit Literatur in Berührung gekommen. Dickkopf, der er damals schon war, hat er dann Stunden, Tage und Wochen in der öffentlichen Bücherei verbracht und sich Literatur angeeignet. Bis er am Ende in der Lage war, Jobs in Verlagen und Zeitungen anzunehmen. In Künstler-Kreisen hatte er ohnehin immer schon verkehrt - eben auch als Kommunist und Revolutionär. Erst mit Mitte 50 ist er dann wirklich freier Schriftsteller geworden.

Weitere Informationen
Ein Bücherstapel liegt auf einem Holztisch vor einer farbigen Wand. © IMAGO / Shotshop

Bücher 2022: Die spannendsten Romane und Erzählungen

Viele aufregende Bücher sind im Jahr 2022 erschienen. Etwa von Yasmina Reza, Ralf Rothmann, Isabel Allende, Kim de l’Horizon und Markus Orths. mehr

Seinen Sprung in die literarische Selbständigkeit hat er ja nicht mit kommunistischen Manifesten vollbracht. Was hat er geschrieben?

Deppe: Klassenkämpferisch war es aber schon oft. Saramagos Schreiben ist gelegentlich in einem Atemzug mit dem magischen Realismus eines Gabriel Garzia Márques genannt worden - er hat zumindest oft nahezu märchenhafte Metaphern für das gefunden, was er transportieren wollte. Wenn er sich 1986 zum Beispiel gegen den Beitritt Portugals und Spaniens zur EU, dafür aber für eine Fusion von Portugal und Spanien aussprechen wollte, dann hat er literarisch kurzerhand die iberische Halbinsel vom Rest Europas abgespalten und das so entstandene "steinerne Floß" über den weiten Atlantik kreuzen lassen. Sehr zum Missfallen der portugiesischen Obrigkeit. Und sehr zum Missfallen der katholischen Obrigkeit hat er im "Evangelium nach Jesus Christus" dem Erlöser Zweifel an der Institution Kirche angedichtet. Das Werk wurde als blasphemisch gebrandmarkt - was ihn nicht weiter störte. Als ihn ein konservativer Kulturstaatssekretär deswegen von der Nominierungsliste für den europäischen Literaturpreis streichen ließ, packte Saramago seine sieben Sachen, einen Olivenbaum und wanderte mit seiner spanischen Frau Pilar nach nach Lanzarote aus.

Du warst 1998 bei ihm zuhause auf Lanzarote, kurz vor der Nobelpreisverleihung. Wie war es, diesem Mann persönlich zu begegnen?

Deppe: Angenehm unaufgeregt. Ich war damals für die ARD mit einem Fernsehteam des NDR dort, um vor der Preisverleihung ein Porträt über ihn zu drehen. Meine damalige Freundin hat in der Agentur gearbeitet, die Saramago weltweit vertreten hat, und sie hat die Übersetzung ins Spanische übernommen. Saramago hat uns bereitwillig durch sein Haus geführt, hat uns sein Arbeitszimmer gezeigt, im Hof den berühmten Olivenbaum, den er aus Spanien mitgebracht hatte, und hinterm Haus seinen Kakteengarten. Ein unglaublich freundlicher, sanftmütiger Mensch - bis es dann zum Interview kam und er sich von einer Sekunde zur anderen weigerte, weiter Spanisch zu sprechen. Er werde nunmal als Portugiese ausgezeichnet, das hätten wir zu akzeptieren. Darauf waren wir aber überhaupt nicht eingerichtet und das hätte uns in Teufels Küche gebracht. Doch dann ist zum Glück Pilar eingeschritten, seine spanische Frau, und hat ihm ordentlich den Kopf gewaschen, sodass wir unser Interview dann auf Spanisch bekommen haben. So war er - der Querkopf Saramago.

Das Gespräch führte Franziska von Busse.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch in den Tag | 16.11.2022 | 09:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Das NDR Elbphilharmonie Orchester auf der Bühne des Großen Saals in der Elbphilharmonie © Michael Zapf

Internationales Musikfest Hamburg: Was kann Musik leisten?

Unter dem Motto "Krieg und Frieden beginnt heute das Internationale Musikfest Hamburg. Ein Gespräch mit Alan Gilbert und Christoph Lieben-Seutter. mehr