Daniel Kehlmann (links) und Salman Rushdie © picture alliance/dpa Foto: Bernd von Jutrczenka

Daniel Kehlmann: "Die Freiheit des Schreibens muss absolut bleiben"

Stand: 15.08.2022 17:49 Uhr

Daniel Kehlmann und Salman Rushdie haben sich 2008 auf einem Literaturfestival in New York kennengelernt. Seitdem sind die beiden Schriftstellerkollegen befreundet. Ein Gespräch.

Die Nachricht vom Mordanschlag auf Salman Rushdie am vergangenen Freitag zu Beginn einer Lesung im US-Bundesstaat New York hat uns alle erschüttert. Salman Rushdie wurde mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert - mittlerweile geht es ihm wohl wieder besser. Sein Sohn twitterte: "Trotz seiner schwerwiegenden und lebensverändernden Verletzungen bleibt sein üblicher kämpferischer und aufsässiger Sinn für Humor intakt." Der 75-Jährige sei nicht mehr an ein Beatmungsgerät und eine zusätzliche Sauerstoffversorgung angeschlossen. Zudem habe er einige Worte sprechen können.

Herr Kehlmann, was ist das für eine Freundschaft zwischen Ihnen beiden? Eine eher berufliche, in der man über das Schreiben spricht? Oder geht sie darüber hinaus?

Daniel Kehlmann: Es geht inzwischen weit in den Bereich der Popkultur und anderer Dinge hinein. Wir haben uns zum Beispiel angewöhnt, Marvel-Serien oder die neue Star Wars-Serie zugleich zu sehen, um nachher oder teilweise während des Sehens schon SMS auszutauschen. Also, man merkt schon, dass ein ganz bestimmender Charakterzug von ihm diese unglaubliche Neugier ist. Ihn interessiert nicht nur jedes neue Buch, das erscheint, ihn interessiert auch alles, was in der sogenannten Populärkultur passiert. Er ist ein ganz wacher, völlig junggebliebener Geist.

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Darf ich Sie fragen, was Ihnen durch den Kopf ging, als Sie von dem Anschlag hörten?

Kehlmann: Vollkommener, absoluter Schock. Meine erste Reaktion war, dass ich ihm sofort eine SMS geschrieben habe. Die erste Meldung war ja nur, dass Salman Rushdie auf der Bühne attackiert worden sei - Näheres wisse man noch nicht. Im ersten Moment habe ich mir das aus irgendeinem Grund harmloser vorgestellt, als es dann war. Ich habe mir vorgestellt, dass irgendjemand auf die Bühne rannte und wahrscheinlich sofort niedergeworfen oder zurückgehalten wurde. Ich habe mir nicht dieses schreckliche Attentat vorgestellt und habe ihm eine SMS geschrieben, wie es ihm geht, ob alles in Ordnung ist. Darauf kam natürlich keine Antwort, und dann kamen schnell immer mehr Nachrichten. Es war ein ungeheurer Schock. Es sah lange so aus, als ob er nicht überleben würde. Wir wissen jetzt, dass er überleben wird, aber die Verletzungen werden schrecklich sein und er wird fürs Leben gezeichnet sein. Es sieht auch so aus, als ob er ein Auge verlieren wird. Es ist wirklich ganz und gar furchtbar und der Schock ist noch lange nicht überstanden für mich.

Nach Veröffentlichung des Buchs "Die satanischen Verse" hatte der damalige iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini Ende der 1980er-Jahre mit einer Fatwa zur Tötung von Salman Rushdie aufgerufen. Rushdie musste sich jahrelang verstecken, hatte Personenschutz. Wie ist er aus Ihrer Sicht in den vergangenen Jahren mit dieser Bedrohung umgegangen?

Kehlmann: Er dachte, wir alle dachten, dass das vorbei ist. Der Iran hatte zunächst einmal klargemacht, dass er diesen Mordaufruf nicht aufrechterhält. Das hat sich in den letzten Jahren wieder ein bisschen geändert. Aber es war doch alles sehr weit in der Vergangenheit. Es war so weit weg, dass man dachte, dass junge fanatische Muslime davon gar nichts mehr wissen. Er lebte ein vollkommen normales Leben, er ging ganz normal spazieren. Er war bei uns zu Besuch, wir waren bei ihm zu Besuch, wir sind oft mit ihm in Restaurants gegangen und er hat eben auch Veranstaltungen gemacht, und zwar gar nicht so selten. Da war kein großes Sicherheitsaufkommen und er wollte das auch überhaupt nicht.

Jetzt kommen natürlich sofort die Fragen in der amerikanischen Presse, warum es keinen Metalldetektor gab. Aber er und wir alle um ihn hatten den Eindruck, dass das vorbei ist. Das ist auch ein Teil seiner Größe gewesen: dass er sich das normale Leben zurückerobert hatte. Man darf nicht vergessen: Als die Fatwa erlassen wurde, hätten auch die westlichen Regierungen am liebsten gehabt, dass er sich irgendwo versteckt und nicht mehr in der Öffentlichkeit auftaucht. Das wäre für sie auch bequemer gewesen. Er hat sich Stück für Stück sein Leben und die Normalität zurückerobert. Bis vor ein paar Tagen dachte man, das ihm das gelungen ist.

War ein Mittel, sich von dieser dauernden Bedrohung zu befreien, der Humor? Er hat sich zum Beispiel im amerikanischen Fernsehen über die Fatwa lustig gemacht.

Kehlmann: Genau, bei Larry David. Es gab eine ganze Staffel von der Comedy-Serie "Curb Your Enthusiasm", wo es um eine Fatwa ging. Das war wahnsinnig lustig. Er ist einer der witzigsten Menschen, die ich kenne, und auch jemand, der nie versucht hat, ein majestätischer, würdevoller, berühmte Schriftsteller zu sein. Er ist für jeden Spaß zu haben.

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In der regierungsnahen iranischen Zeitung "Kayhan" hieß es am Samstag: "Tausend Bravos für die mutige und pflichtbewusste Person, die den abtrünnigen und bösen Salman Rushdie in New York angegriffen hat. Die Hand des Mannes, der dem Feind Gottes den Hals umgedreht hat, muss geküsst werden." Die Zeitung "Khorasan" brachte die Schlagzeile: "Satan auf dem Weg zur Hölle". Sie sind zwar kein Politiker, aber wie beurteilen Sie den diplomatischen Balanceakt des Westens mit Iran?

Kehlmann: Das ist natürlich furchtbar, so etwas zu hören. Dass im Iran die Hardliner derart an der Macht sind, ist auch wiederum zum Teil ein Fehler des Westens, der Trump-Regierung, die den Nukleardeal einseitig aufgekündigt hat. Aber das heißt natürlich nicht, dass man da jetzt verständnisvoll sein darf oder soll. Das ist absolut indiskutabel. Ich finde, die beste Antwort darauf ist - und das ist wirklich ein Fall, wo jeder etwas tun kann: Jeder soll jetzt "Die satanischen Verse" kaufen. Jeder soll auch versuchen sie zu lesen. Es ist ein nicht ganz einfaches, aber ganz wunderbares, großartiges Buch. Ich fände es ganz wunderbar, wenn als Reaktion darauf jetzt plötzlich "Die satanischen Verse" wieder einen Platz vorne auf der Bestsellerliste hätten.

Was glauben Sie, welche Folgen wird dieser Mordanschlag haben?

Kehlmann: Das macht mir große Sorgen. Natürlich kann man sagen: Wir ändern nichts, wir machen weiter. Aber natürlich wird jeder jetzt ein bisschen mehr Angst haben, besonders wenn es um religiöse Kritik und Kritik am Islam geht. Aber das Wichtige ist, dass man trotzdem versucht, mutig zu bleiben und dass man sich die Freiheit des Wortes nicht verbieten lässt. Auch nicht von denen, die mit kulturrelativistischen Argumenten kommen. Es werden bald wieder Leute sagen: Natürlich war dieses Attentat schrecklich, aber musste er wirklich den Propheten verspotten? Diese Art von Relativismus ist nicht angebracht. "Die satanischen Verse" sind ein großes Buch, und wir dürfen, wenn wir schreiben, nicht schon darüber nachdenken, wer sich beleidigt fühlen könnte. Die Freiheit des Schreibens und des Sprechens muss absolut bleiben.

Das Gespräch führte Eva Schramm.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 15.08.2022 | 16:30 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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