Kerstin Claus © picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Kerstin Claus ist die neue Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung

Stand: 30.03.2022 14:18 Uhr

Die Bundesregierung hat die Journalistin und Beraterin Kerstin Claus zur neuen Missbrauchsbeauftragten berufen. Sie wird das Amt am 1. April für fünf Jahre übernehmen. Ein Porträt.

von Florian Breitmeier

Im Herbst 2010 schrieb Kerstin Claus der ersten Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Christine Bergmann, eine Mail. Damals ahnte sie natürlich noch nicht, dass sie später einmal selbst dieses wichtige Amt ausüben sollte. Kerstin Claus schilderte ihr persönliches Leid, das ihr als Jugendliche von einem evangelischen Geistlichen zugefügt wurde.

2003 und 2010 hatte Kerstin Claus den Pfarrer bei der evangelischen Landeskirche in Bayern angezeigt. Strafrechtlich waren die Missbrauchstaten verjährt, die Kirche reagierte lediglich mit einem Disziplinarverfahren. Der Pfarrer blieb weiterhin im Kirchendienst tätig. Die ehemalige Familienministerin Bergmann reagierte auf die Mail der Betroffenen, benannte den Missbrauch klar als Unrecht und kritisierte auch den Umgang der Kirche mit dem Fall. Diese Mail änderte vieles für Kerstin Claus.

Kerstin Claus: Gefragte Expertin beim Entschädigungsrecht

Die Journalistin und systemische Beraterin engagierte sich fortan noch entschiedener für Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Claus ist seit 2015 Mitglied im Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Das Thema Aufarbeitung und Prävention in den großen christlichen Kirchen nahm sie dabei kritisch in den Blick, ohne dabei ihre Perspektive auf das Thema zu verengen.

Kerstin Claus wirkt seit 2019 auch im Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen aktiv mit. Zudem ist sie eine gefragte Expertin auf dem komplexen Gebiet des Entschädigungsrechts für Opfer von Gewalt- und Terrortaten.

Großes Verständnis für Betroffene sexualisierter Gewalt

Als der Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales im Jahr 2019 die Reform des Entschädigungsrechts auf den Weg brachte, war Kerstin Claus eine gefragte und versierte Sachverständige in dem Gremium. Sie kennt die immensen Herausforderungen, vor denen Betroffene sexualisierter Gewalt stehen, wenn sie oft auf sich allein gestellt, ihre Ansprüche durchsetzen wollen - gegen ihre Täter und die Institutionen, in denen diese beschäftigt sind.

So hat Kerstin Claus in ihrem eigenen Fall ein Verfahren nach dem staatlichen Opferentschädigungsgesetz angestrengt und Recht bekommen. Die evangelische Landeskirche in Bayern musste mit dem Freistaat einen Vergleich schließen, als dieser die an Kerstin Claus bezahlte Summe von der Kirche gerichtlich zurückforderte.

Berufung von Kerstin Claus ist eine spannende Entscheidung

Auf die Missbrauchsaufarbeitung in der evangelischen Kirche hat die 52-jährige ein waches Auge. 2019 hielt sie als Betroffene eine viel beachtete Rede vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie mahnte, forderte, setzt aber stets auf Dialog anstatt auf die schroffe Konfrontation. Zur Mitarbeit im 2020 gegründeten und mittlerweile ausgesetzten Betroffenenbeirat in der EKD, hat sich Kerstin Claus nicht entschieden.

Ihre Berufung zur neuen unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung ist eine spannende Entscheidung. Wird derzeit doch intensiv darüber diskutiert, ob der Staat beispielsweise die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt in den Kirchen stärker kontrollieren oder gar in die Hände einer unabhängigen Wahrheitskommission legen sollte.

Klare und konstruktive Rolle in der Missbrauchs-Debatte

Kerstin Claus ist zuzutrauen, in der Debatte eine klare und konstruktive Rolle einzunehmen, weil das Thema sexualisierte Gewalt für sie eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und selbstverständlich nicht nur die evangelische oder katholische Kirche betrifft. Das hat sie bei ihrer Vorstellung in Berlin klar gemacht.

Als Betroffene, die den Mut fand, ihre Geschichte öffentlich zu machen und sich für andere zu engagieren, kann Kerstin Claus ein Vorbild für diejenigen sein, die bislang vielleicht noch geschwiegen haben, zu den Verbrechen, die sie selbst erleiden mussten. Eigentlich wäre ihr Vorgänger, Johannes Wilhelm Rörig, regulär noch bis zum Jahr 2024 im Amt geblieben. Bereits Ende 2020 hatte dieser aber erklärt, die Aufgabe nach der Bundestagswahl abgeben zu wollen. Mehr oder weniger ein offenes Geheimnis war seitdem, dass nach Johannes Wilhelm Rörig eine Frau die Aufgabe einer Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten übernehmen sollte.

Entschlossen, gut vernetzt und kompetent

Kerstin Claus galt seit längerem als eine aussichtsreiche Nachfolgekandidatin für das Amt, das im Bundesfamilienministerium angesiedelt ist. Als nach der Bundestagswahl die Grünen-Politikerin Anne Spiegel neue Bundesfamilienministerin wurde, schmälerte das nicht die Chancen von Kerstin Claus, die sich im März 2021 im rheinland-pfälzischen Landtagswahlkampf für die Grünen um ein Direktmandat beworben, den Sprung in den Mainzer Landtag aber verpasst hatte. Allerdings würde man ihrem fachlichen Profil und Engagement nicht gerecht, würde man ihre Berufung ins neue Amt vor allem aus politischer Perspektive deuten wollen.

Nun steht sie auf Bundesebene vor einer großen Herausforderung: die Aufmerksamkeit für das Thema sexualisierte Gewalt wachzuhalten und die Anstrengungen für die Rechte der Betroffenen weiter zu stärken. Kerstin Claus hat erklärt, sich dafür mit ganzer Kraft einsetzen zu wollen. Einen Tunnelblick auf das vielschichtige Missbrauchsthema wird es mit ihr nicht geben. Entschlossen, gut vernetzt und kompetent ist sie für die neue Aufgabe allemal. Und wenn es ganz sicher mal schwierig werden sollte, könnte sie sich an eine Mail an ihre Vor-Vorgängerin im Amt erinnern und was daraus folgte.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Klassisch unterwegs | 30.03.2022 | 15:40 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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