Christoph Türcke © picture alliance/dpa Foto: Jens Kalaene

Gesinnung und Verantwortung: Wie der Krieg die Haltungsfrage stellt

Stand: 03.06.2022 15:48 Uhr

Der Philosoph Christoph Türcke nimmt Stellung zum Ukrainekrieg, der in dieser Woche bereits hundert Tage andauert. Politik, meint Türcke, braucht in dieser Situation feinstes Fingerspitzengefühl.

von Christoph Türcke

Schon während des Bundestagswahlkampfs im letzten Jahr plädierte Robert Habeck für die Lieferung leichter Abwehrwaffen an die Ukraine. Die Mehrheit seiner Partei war empört. Als nach der "Zeitenwende" viele der damals Empörten nun laut die Lieferung schwerer Waffen verlangten, war Habeck eher leise. Ja, es sei "richtig", jetzt schweres Gerät zu liefern; aber ob es "gut" sei, wissen wir noch nicht. Das war in Ton und Sache eine wichtige Unterscheidung, keine spitzfindige. Nur dass sie umgekehrt lauten müsste: Ob es richtig ist, muss sich erst herausstellen, aber jetzt ist es gut. Wenn ein ganzes Volk den Mut hat, sich gegen einen übermächtigen Angreifer zu verteidigen - und das war nicht minder überraschend als der Angriff selbst -, dann ist es ein moralisches Elementargebot, will sagen, "gut", sich seinen Hilferufen nicht zu verschließen.

Es kommt aufs Ausmaß der Rezession an

Natürlich definiert der Hilfsbedürftige nicht einfach den Umfang der Hilfe. Das kann nur der Helfende tun, aber bitte in Absprache mit dem Hilfsbedürftigen, mit ebenso viel Aufmerksamkeit für seine Lage wie mit Gespür für Verhältnismäßigkeit. Und dazu gehört auch die Inkaufnahme eigener Verluste und Risiken. Drohende wirtschaftliche Rezession ist noch keine hinreichende Legitimation dafür, weiterhin Rohstoffe beim Aggressor zu kaufen und dessen Krieg mitzufinanzieren. Es kommt aufs Ausmaß der Rezession an. Vier bis fünf Prozent Verlust an Wirtschaftsleistung sind laut seriösen, wenn auch nicht unfehlbaren ökonomischen Rechenmodellen wahrscheinlich. Nur dass dann nicht alle gleichmäßig vier bis fünf Prozent weniger Verfügungsmasse hätten. Es ist vielmehr eine schwer voraussagbare und sozial durchaus ungleich verteilte Zunahme an Insolvenzen und Arbeitslosenzahlen zu erwarten - und diese wiederum gegen die ungleich größeren Leiden abzuwägen, die das überfallene Volk auszustehen hat. Soziale Härten stehen ins Haus. Ja. Aber von einer generellen Untragbarkeit einer solchen Rezession kann nicht die Rede sein. Habeck gibt sich bei der Frage, was geschieht, wenn Russland ad hoc den Öl- und Gashahn zudreht, denn auch bemerkenswert zuversichtlich. Da gehen "die Lichter nicht aus", sagt er, während er erhebliche "soziale Verwerfungen" kommen sieht, wenn seine Regierung die Einfuhr stilllegt. Er befürchtet, dass man ihr dann die Einbußen anlastet. Eine Rezession, die Russland uns einbrockt, könnte sie viel leichter moderieren.

Ab wann ist der Waffenlieferant Kriegspartei?

Alle aktuellen Waffenlieferungen an die Ukraine stehen indessen unter der Frage, ab wann der Lieferant Kriegspartei ist. Erst wenn er diese Waffen im Kriegsgebiet selbst betätigt? Oder auch schon, wenn er außerhalb des Kriegsgebiets eine Kriegspartei in den Gebrauch dieser Waffen einübt, was völkerrechtlich grenzwertig ist? Oder gar schon, wenn er die Waffen lediglich ins Kriegsgebiet überstellt? Auch das tut er ja nicht unparteiisch. Sobald man aber im weiteren oder engeren Sinne, ob völkerrechtskonform oder nicht, Partei nimmt, definiert man nicht mehr allein, ob man Kriegspartei ist. Es kann genügen, dass man von der Gegenseite als Kriegspartei empfunden wird. Von einem solchen Empfinden darf man sich weder bestimmen lassen, noch kann es einem egal sein. Zumal wenn die Gegenseite sich als zunehmend diktatorisches Gebilde erweist, dessen Willensbildungsprozesse auf eine winzige Clique, ja letztlich auf eine Person hin schrumpfen, so dass deren seelische Verfassung ausschlaggebend dafür werden kann, ob sie den Atomknopf drückt oder nicht.

Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg

In angespanntester Lage reduziert sich Politik auf Nuancen von Fingerspitzengefühl. Je machtneurotischer ein Diktator, desto existenzieller für ihn die Gesichtswahrung. Ihm dafür Wege offen zu lassen, muss kein Kuschen sein. Man muss ihn auf Regierungsebene nicht unbedingt "Kriegsverbrecher" nennen und kann gleichwohl unvermindert an seiner Niederringung arbeiten. Hier lässt sich einiges aus den psychologischen Strategien gegen Geiselnehmer lernen, die oft erstaunlich erfolgreich sind, wenn auch keine Erfolgsgaranten. Hart in der Sache, soft im Umgang, sagten die alten Römer. Ähnlich klug war auch ihr anderer Spruch: Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg.

Das war keineswegs bloß eine Kriegstreiberparole. Sie kann zwar heißen: Wenn du zu deinen Konditionen Frieden schließen willst, musst du erst einmal Krieg "bereiten", also Krieg führen. Sie kann aber auch heißen: Wenn du einen bestehenden Frieden erhalten willst, musst du effiziente Waffen parat haben, also "bereiten" im Sinne von "vorbereiten", nämlich für den Fall, dass die Gegenseite den Waffenstillstand bricht. Und drittens: Du musst auch die Bereitschaft haben, will sagen, innerlich vorbereitet sein, diese Waffen beherzt zu gebrauchen. Letzteres ist in Deutschland der eigentliche Schock. Man sieht, wie diese Bereitschaft in der Ukraine aufgeflammt ist - und ahnt, dass sie im eigenen Land eher erlischt. Europa am Hindukusch oder in Mali verteidigen - durch Spezialkräfte, die dafür sorgen, dass der Terrorismus von dort nicht hierher kommt, sondern nur Rohstoffe und wirtschaftliche Vorteile: Das ist okay. Aber uns selbst im eigenen Land verteidigen? Wir sind doch in der NATO! Die gewährleistet durch atomare Abschreckung, dass uns niemand angreift. Auf dem Balkan, in Afrika und Asien mag es weiterhin Krieg geben. Aber in Nordamerika und Zentraleuropa ist er Geschichte. Da erinnert nur noch der Terrorismus an ihn. Neben dessen Bekämpfung steht vornehmlich der Kampf um die beste Hochtechnologie, um Absatzmärkte und Arbeitsplätze an, der zwar von militärischem Krieg unterschieden ist, aber noch längst kein Friede, vielmehr ein Dauertribut an die globale Wirtschaftsordnung. Man hat schlicht vergessen, wem sich der scheinbare Selbstläufer "Friede im High-Tech-Westen" verdankt: dem atomaren Schutzschild.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 04.06.2022 | 13:05 Uhr

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