Corona-Folgen: "Massive Störungen" bei Kindern und Jugendlichen
Laut Studien sind mittlerweile fast ein Drittel der Kinder Corona-bedingt psychisch auffällig, haben Ängste und fühlen sich nicht gut. Ein Gespräch mit der Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Renate Engelhardt-Tups vom Winnicott-Institut in Hannover.
Frau Engelhardt-Tups, wie spüren Kinder und Jugendliche die Pandemie? Mit welchen Symptomen kommen sie zu Ihnen?
Renate Engelhardt-Tups: Inzidenzzahlen bedeuten für Kinder nicht so viel. Kinder spüren die atmosphärischen Spannungen, die sich in der Familie in den Unsicherheiten, den Ängsten, der Unzufriedenheit und der Wut der Eltern niederschlagen und schwer erklärbar und verstehbar sind. Eltern können ja selber nicht erklären, warum sie unter diesen Gefühlen leiden. Und das verunsichert die Kinder extrem. Wir erleben am Institut, dass sich die Symptome bei denen, die vorher schon kamen, nicht groß verändert haben. Das sind Ängste, Depressionen, Zwangserkrankungen, Schulleistungsstörungen und Konzentrationsstörungen. Das sind Symptome, die jetzt viel massiver und in der Zahl gehäufter vorkommen. In der Folge erleben wir auch Eltern, die hier verzweifelter anrufen, die drängender, fordernder, wütender werden, wenn wir nicht sofort ein Hilfsangebot zur Verfügung stellen können.
Hat sich Ihr Institut auf die Pandemie-Situation entsprechend neu eingestellt, verbunden mit den Belastungen für Kinder?
Engelhardt-Tups: Ja, alle Mitarbeiter sind angehalten, Termine für Erstgespräche zur Verfügung zu stellen. Aber das, was jetzt gekommen ist, ist ganz schwer zu bedienen. Dass man innerhalb von einer oder zwei Wochen ein Erstgespräch bekommt, das ist eher die Ausnahme. Das haben wir nur bei den Kindern von null bis drei - da versuchen wir innerhalb von mindestens zehn Tagen ein Erstgespräch hinzubekommen, weil da die Störungen so massiv und die Folgen total gravierend sind. Wenn sich die Entwicklung bei den Babys so verschlimmert, dann bekommen die - schon immer in der Babyambulanz - ganz schnelle Hilfe. Bei allen anderen versuchen wir, zumindest mit einem Erstgespräch und einer Diagnostik, so schnell es geht zu helfen.
Wie spüren Babys die Pandemie-Situation?
Engelhardt-Tups: Da haben wir ein vermehrtes Aufkommen von Schrei- und Schlafstörungen. Es gibt Babys, die so viel schreien, dass die Eltern in einen Hilflosigkeits-Teufelskreis kommen und das Schreien nicht mehr durch ein beruhigendes, zuversichtliches, elterliches Verhalten eindämmen können. Wir haben auch Babys, die nicht mehr gut einschlafen können, nicht mehr durchschlafen können, mit Fütterstörung. Das sind alles Störungen, die sich ergeben, weil es eine Unsicherheit innerhalb der Familie gibt, weil es Emotionen gibt, die vorher nicht da waren. Die Situation ist so unklar, weil es keine Perspektive gibt; man weiß nicht, ob wir im nächsten Jahr alle wieder in einem Normalmodus landen. Diese Unsicherheit drückt sich in der familiären Atmosphäre aus.
Das Deutsche Jugendinstitut hat nach dem ersten Lockdown Untersuchungen gemacht. Danach haben 35 Prozent der Mädchen und 15 Prozent der Jungen zwischen 16 und 19 Jahren "depressive Symptome" beschrieben. Was sind das für Symptome und warum sind offenkundig Mädchen stärker als Jungen betroffen?
Engelhardt-Tups: Das ist etwas, was wir in der Tat auch hier erleben. Mädchen fokussieren sich in dem Alter auf die sozialen Kontakte. Die treffen sich mit ihren Freundinnen außerhalb der Familie und tauschen vorrangig auch Emotionen aus. Bei Mädchen ist der soziale Austausch in dem Alter immens wichtig. Und wenn die sich dann auf die Social-Media-Gruppen beschränken, weil sie sich nicht mehr treffen dürfen, dann ist das eine kurzfristige Hilfe, aber da entstehen viele Missverständnisse. Mädchen ziehen sich dann immer mehr zurück, werden traurig, depressiv, antriebslos, bis hin zu suizidalen Gedanken.
Wie reagieren denn Jungen auf die Situation?
Engelhardt-Tups: Eigentlich so, wie Jungs immer reagieren: eher extrovertiert, mit aggressiven, störenden und destruktiven Verhaltensweisen. Es gibt Wutattacken, sie schmeißen etwas um, rennen durch die Wohnung, sind laut.
Was brauchen Kinder am meisten in dieser Situation?
Engelhardt-Tups: Das, was so schwer zu haben ist: Sicherheit. Die bräuchten jetzt Zuversicht, Sicherheit, klare Aussagen, eine feste Struktur. Die Schule darf in keinem Fall wieder aufhören, die Kindergärten dürfen nicht geschlossen werden. Die Kinder müssen die Chance bekommen, sich zumindest in kleinen Gruppen weiter treffen zu können. Die brauchen Erwachsene, die Sicherheit und Zuversicht ausstrahlen. Anlaufstellen, wo sie mit ihren Fragen kommen können und wo jemand ihnen Antworten geben kann. Aber auch, wo sie sich miteinander im Spiel austauschen können, kreative Angebote, körperliche Betätigung - all das brauchen die jetzt verstärkt.
An welchen Stellen hat Ihrer Meinung nach die Politik versagt? Was müsste die neue Regierung tun, um die Belastungen der Kinder aufzufangen?
Engelhardt-Tups: Ich finde es schwer, über ein Versagen zu sprechen, weil die Situation für uns alle so schwierig war. Auch wir Fachleute könnten davon sprechen, dass wir versagt haben: Wir hätten warnen können, die Kinder nicht wegzusperren. Ich würde lieber in die Zukunft gucken und davor warnen, wieder Lockdowns für Schulen und Kindergärten zu verhängen. Ich würde dafür plädieren, dass man Kinder wieder ihren festen Strukturen zuführt, dass sie in der Schule und in der Kita verlässliche Zeiten haben, wo sie außerhalb der Familie betreut werden. Stichwort "Lebensraum Schule", "Lebensraum Kita": Dass da die Angebote verstärkt werden, die Möglichkeiten zu spielen, es musische Angebote gibt. Auch wenn das nicht in großen Klassen möglich sein wird, weil wir nicht wissen, was uns die Pandemie noch bringt. Aber in jedem Fall sollte die Möglichkeit geboten werden, sich in kleinen Gruppen zu treffen, was bedeuten würde, dass der Personalschlüssel angehoben werden müsste. Da würde ich jetzt Gelder reinstecken, damit mehr Erzieher und Sozialpädagogen in den Schulen und Kindergärten arbeiten können.
Das Gespräch führte Claudia Christophersen.
