Das Sonntagskonzert
Sonntag, 03. Juli 2022, 11:00 bis
13:00 Uhr
"Niemand, der ihre Werke hört, würde glauben, dass sie von einem weiblichen Gehirn geboren wurden." Oder - noch schlimmer: "Ich hätte nie geglaubt, dass eine Frau fähig wäre, so etwas zu schreiben!" Diese Aussagen von französischen Rezensenten und Komponistenkollegen (über Augusta Holmès und Mel Bonis) stehen stellvertretend für die Haltung ganzer Generationen gegenüber den Werken von Komponistinnen. Deshalb präsentieren das Orchestre National de France und die Dirigentin Debora Waldman ein rein weibliches Programm: Sie wollen demonstrieren, dass die Musik- und die Kunstgeschichte Frankreichs überhaupt von großen Frauenfiguren geprägt wurde, die sich nicht auf die Rolle von Salonunterhalterinnen beschränken ließen.
Wiederentdeckung des französischen Musikerbes
Unterstützt wurde das Projekt vom Palazzetto Bru Zane. Das Zentrum für französische romantische Musik mit Sitz in Venedig hat sich die Wiederentdeckung und internationale Verbreitung des französischen Musikerbes aus der Zeit von 1780 bis 1920 zur Aufgabe gemacht.
Frauen, die "männlich" komponieren
Der Titel des Konzerts, "Legendäre Frauen" ist einem Tryptichon von Mel Bonis entnommen, eine Hommage an Salome, Ophelia und Cleopatra. Marie Jaëll, eine Schülerin des legendären Henri Hertz, wurde als Pianistin berühmt, ehe sie sich um 1870 ernsthaft dem Komponieren zuwandte. "Ihre ersten Versuche waren turbulent, exzessiv, so etwas wie der Ausbruch eines verheerenden Stroms, aber sie vervollkommnet sich jeden Tag in ihrer Kunst; sie lässt ihr Ziel nicht aus den Augen und wird es erreichen", gestand einer ihrer Lehrer ihr gnädig zu - derselbe Camille Saint-Saëns, der noch über 30 Jahre Mel Bonis für unfähig halten sollte, ein so "männliches" Klavierquartett zu verfassen! Jaëlls elegantes Cellokonzert F-Dur wurde 1882 von Jules Delsart, einem der bedeutendsten französischen Cellisten seiner Zeit, uraufgeführt.
"Grenzenlose Willenskraft"
Augusta Holmès, Französin mit anglo-irischen Eltern, machte sich als Dichterin wie als Komponistin vor allem von politisch gefärbten Werken einen Namen. Auch über sie äußerte sich Saint-Saëns: "Wie Kinder haben Frauen keine Vorstellung von Hindernissen, und ihre Willenskraft reißt alle Mauern nieder. Mademoiselle Holmès ist eine Frau, eine Extremistin."
Uraufführung nach 100 Jahren
Charlotte Sohi komponierte ihre Sinfonie "Grande Guerre" - "Der große Krieg" in den Jahren 1914 bis 1917; die Uraufführung fand allerdings erst hundert Jahre später statt. "Die Musik packt den Zuhörer von den ersten Takten an", jubelte ein Kritiker, "eine ‚Sinfonie des Krieges‘ ja, und leidenschaftlich verteidigt von einem wunderbaren Taktstock!" Damit ist die junge brasilianisch-israelische Dirigentin Debora Waldman gemeint, die die Partitur wiederentdeckt und auch die moderne Notenedition von Sohis Sinfonie besorgt hat.