Warum schließen sich junge Menschen dem IS an?
Im fünfteiligen NDR Kultur-Podcast "Heimkehr. Leben nach dem Terror" geht es um drei junge Männer, die vor ein paar Jahren nach Syrien ausgereist sind und sich dort der Terrormiliz "Islamischer Staat" angeschlossen haben. Nur einer von ihnen ist zurückgekehrt, Oliver. Bei ihm stellt sich die Frage, wie er heute mit seiner Schuld umgeht. Marvin und Ferhat sind nicht zurückgekehrt; ihr Schicksal ist ungewiss. Wie gehen deren Familien mit dem Verschwinden ihrer Brüder, Kinder und Enkel um? Für die Islamismusexpertin Claudia Dantschke sind solche Schicksale grausiger Alltag.
Frau Dantschke, die drei in unserem Podcast sind keine Einzelfälle. Wer sind diese Jugendlichen, die ihre Heimat zurücklassen, um in Syrien einen Krieg zu kämpfen, der nicht ihrer ist?

Claudia Dantschke: Das sind ganz unterschiedliche junge Männer - aber auch junge Frauen: Ungefähr 21 Prozent der Ausgereisten sind junge Frauen im Alter von 15 bis Mitte 20. Die Männer sind meist 17 bis Anfang 30. Sie kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten und haben verschiedene Herkünfte. Es gibt ganz unterschiedliche Motivationen. Manche hatten mit dem Leben, mit der Familie Frust, hatten keine Lebensperspektive - oder haben es so empfunden. Und dann gab es dieses attraktive Angebot, Geschichte zu schreiben: "Ich bin ganz bedeutend, ich kann dort das neue Kalifat mit aufbauen." Die Motivation ist meistens, irgendwie etwas Sinnvolles aus seinem Leben zu machen - zumindest vermeintlich.
Wie viele Männer und Frauen betrifft das?
Dantschke: Laut Behörden sind aus Deutschland 1.050 Personen nach Syrien und Irak ausgereist. Davon sind ungefähr 75 Prozent zum IS gegangen und 25 Prozent zu den Al-Qaida-nahen Gruppen.
Diese jungen Menschen begeben sich in sehr altertümliche, archaische Strukturen und geben ihre Freiheit auf. Ist ihnen das nicht bewusst?
Dantschke: Entscheidend für die Frage, warum jemand ausgereist ist, ist die Frage, wie sein Leben bis dahin in Deutschland war. Welche Probleme hatten sie? Manche von ihnen, vor allem junge Frauen, suchen diese starren Strukturen: Sie hatten vorher das Gefühl, keinen Boden unter den Füßen zu haben und konnten mit sich nichts anfangen. Sie suchen nach so einer Ordnungslinie und nach jemandem, der sie an die Hand nimmt, ihnen Entscheidungen und Verantwortung abnimmt, und ihnen sagt, was sie zu tun haben.
Bei allen, die ausgereist sind, gab es hier im Vorfeld eine Radikalisierung. Ihnen ist eine Identität versprochen worden: "Du bist jetzt Muslim, und innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gehörst du zu den Besten, zur Führung." Mit dieser Identität gab es also auch eine Aufwertung und damit verbunden eine Abwertung der Feindbilder dieser Ideologie.
Das zweite wichtige Narrativ ist, dass angeblich überall in der Welt explizit der Islam und die Muslime bekämpft werden: "Und du bist jetzt einer, der zwar zu dieser vermeintlichen Opfergruppe gehört, aber du bist keiner, der sitzt und jammert, sondern jemand, der etwas dagegen tut, der die armen Frauen und Kinder, die muslimischen Schwestern und Brüder, verteidigt.
Wie gehen die Zurückgelassenen, die Familien damit um?
Dantschke: Die Familien sind sehr entsetzt. Viele haben es nicht mitbekommen, was ihr Sohn oder ihre Tochter plant. Die sind also heimlich ausgereist. Meistens haben sie ihre Angehörigen auch belogen. Die Familien sind zunächst enorm enttäuscht. Weil das dort ein Kriegsgebiet ist, schwanken die Familien zwischen der Abscheu gegenüber dem, was ihre Söhne oder Töchter dort tun, und der Angst, ihre Söhne oder Töchter zu verlieren. In diesem Spagat bewegen sie sich ständig.
Wir betreuen diese Angehörigen und sagen ihnen, dass sie der wichtigste Part dabei sind, den Kontakt zu halten. Denn dort vor Ort haben diese Jungs und Mädchen Sachen erlebt, die dafür geeignet sind, im Kopf wieder klar zu werden - zumindest Zweifel zu bekommen, ob das wirklich der richtige Schritt war: "Ich habe vielleicht doch den falschen Schritt gemacht und möchte ihn revidieren. Ich möchte nach Hause kommen und vielleicht doch ein anderes Leben anfangen."
Das Gespräch führte Jürgen Deppe
