80 Jahre Wannsee-Konferenz: Der Weg zur "Endlösung"
Am 20. Januar 1942 fand in Berlin die Wannsee-Konferenz statt. Ein Protokoll dieser Konferenz dokumentiert die detailliert geplante Organisation des Holocaust durch die Nationalsozialisten. Ein Gespräch mit dem Historiker Norbert Frei.
Herr Frei, Sie haben das Protokoll der Wannseekonferenz als Teenager in den 60er-Jahren gelesen - 15 maschinenschriftliche Seiten. Was war das für ein Moment für Sie?
Norbert Frei: Ich hatte das Glück, einen sehr guten Deutsch- und Geschichtslehrer zu haben, der darauf Wert gelegt hat, dass wir den Nationalsozialismus anhand von originalen Dokumenten begreifen lernen. Dazu gehörte auch dieses Wannsee-Protokoll. Das war für uns als Schülerinnen und Schüler sehr eindrucksvoll. Viele Altersgenossen hatten solche tollen Lehrer nicht, sondern im Gegenteil, vielfach gab es welche, die mit Beklemmungen und eigenen Schuldgefühlen auf diese Zeit geschaut haben oder sogar mit Apologie-Bedürfnis. Für uns aber war das sehr eindrucksvoll, dies anhand des Originaldokuments zur Kenntnis zu nehmen. Das hat dazu geführt, dass ich das immer im Gedächtnis behalten habe - wie andere Dokumente übrigens auch, die wir damals gelesen haben.
Welche Rolle spielte dieses Treffen, das man ja wohl als einen Kipppunkt in der Politik der Nationalsozialisten deuten kann?
Frei: Da bin ich mir gar nicht so sicher. Eberhard Jäckel, ein Kenner der Materie, inzwischen verstorben, hat vor 20 oder 30 Jahren mal sehr pointiert gesagt: Im Grunde genommen, obwohl dieses Dokument so bekannt ist, vielleicht das bekannteste Dokument des Holocaust, wissen wir eigentlich nicht genau, warum diese Konferenz stattgefunden hat. Denn Faktum ist, dass der Holocaust im Sinne der brutalen Mordaktionen der Einsatzgruppen hinter der Front und parallel zur Front im Krieg gegen die Sowjetunion längst stattfand. Das Vernichtungslager Kulmhof hatte schon seinen schrecklichen Betrieb aufgenommen, an vielen Stellen hatten auch Deportationen schon begonnen. Mit anderen Worten: Es kann nicht die Rede davon sein, dass erst hier der Judenmord begonnen hätte. Insofern gibt es begründete Argumentationen, dass es dort darum ging, die Frage der systematischen Einbeziehung der deutschen und der westeuropäischen Juden in den Vernichtungsprozess zu besprechen. Andere - dazu gehört auch Jäckel - sagen, dass es vor allem Heydrich darum ging, hier seine Zentralstellung zu dokumentieren gegenüber den anderen beteiligten Instanzen.
Das alles sind wichtige Argumente, aber letzten Endes können wir den ganz genauen Zweck dieses Treffens aus den Quellen nicht erschließen, sondern wir müssen viel Kontext nehmen, den wir glücklicherweise haben, denn die Forschung ist sehr weit in Bezug auf den Holocaust. Aber wir müssen mit Argumenten, mit Thesen leben - und so wird es, fürchte ich, auch bleiben. Denn dieses ist ja das einzige, eher zufällig erhalten gebliebene Protokoll, das für sich steht, und erst durch nicht direkt anschließende Dokumente kontextualisiert werden kann.
Dieses Treffen hat sich als Datum in der Geschichte sehr hartnäckig verfestigt. Warum ist das so?
Frei: Weil es vielleicht das Dokument ist, das am eindrücklichsten den Gesamtzusammenhang dessen, was da geplant und zum Teil schon in Gange war, dokumentiert. Es gibt kein anderes Dokument aus der Zentralperspektive des NS-Staates, das ich kenne, das so genau beschreibt - wenn auch mit einer Sprache, die zu verschleiern versucht, aber für jeden, der von heute aus drauf blickt, völlig klar ist -, was das Gesamtunternehmen Holocaust und Vernichtung der Juden bedeuten sollte, was der Begriff der Endlösung, der im Dokument benutzt wird, tatsächlich bedeutet.
Die Konferenz dauerte 90 Minuten - eine kurze Zeit für eine so weitreichende Entscheidung, die das Schicksal von Millionen Menschen besiegelte. Eine Entscheidung, die zudem ohne Widerspruch der Beteiligten getroffen wurde. War man hier gut vorbereitet, an diesem Tag, in diesem Moment?
Frei: Ja, natürlich. Alle Seiten waren vorbereitet, alle wussten, worum es geht. Reinhard Heydrich hält eingangs ein längeres Referat - wenn man das noch hinzurechnet, dann sieht man, dass es dort nicht kontrovers zugegangen ist, jedenfalls nicht in einem Sinne, dass grundsätzlich an den Dingen gerüttelt worden wäre. Es gibt unterschiedliche Meinungen an diesem oder jenem Punkt, etwa hinsichtlich der Frage der sogenannten "Mischlinge", die dort auch erörtert wird. Aber letzten Endes wird das Erschütternde und das unglaublich Zynische dieses Gesprächs auch dadurch deutlich, dass es so relativ kurz gewesen ist und dass man danach - jedenfalls Heydrich - sehr zufrieden war und sich sogar einen Cognac genehmigt hat angesichts der Problemlosigkeit, mit der hier dieses Verbrechen gleichsam zwischen den beteiligten Instanzen verabredet und in seine Zukunft hineingeplant worden ist.
Die Villa am Wannsee, der Ort der Konferenz, ist heute eine Gedenk- und Bildungsstätte. Welche Relevanz hat die dortige Arbeit für unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten?
Frei: Die Tatsache, dass es erst nach langen Kämpfen zu dieser Dokumentationsstelle gekommen ist, ist sehr wichtig, nicht nur für die Schülerinnen und Schüler aus dem Umkreis, die dort hingehen können, sondern auch, um die Nachgeschichte dieser Wannsee-Konferenz in den Blick zu nehmen. Ich meine damit die Tatsache, dass jenseits des relativ großen Teils der Beteiligten, die hinterher strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden, so sie sich nicht selbst das Leben genommen hatten, es doch auch einen Teil gegeben hat, die noch jahrzehntelang in die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik hinein gelebt haben, großenteils unbehelligt. Auch das wird an einer solchen Dokumentationsstelle sehr gut deutlich. Insofern glaube ich, ist es ein Ort, an dem man reflektieren kann, wozu auch Bürokratien in der Lage sein können.
Das Gespräch führte Claudia Christophersen.
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