Dmitrij Kapitelman © picture alliance/dpa Foto: Gerald Matzka

Ukraine-Krieg: "Niemand rechnet damit, dass der Beschuss bald aufhört"

Stand: 24.08.2022 17:43 Uhr

Vor genau sechs Monaten hat Russlands Krieg gegen die Ukraine begonnen - ein Ende ist nicht in Sicht. Ein Gespräch mit dem ukrainisch-stämmigen Schriftsteller Dmitrij Kapitelman.

Herr Kapitelman, von diesem Schockmoment vor sechs Monaten bis jetzt - wie hat sich Ihr Blick auf die Geschehnisse verändert?

Dmitrij Kapitelman: Ich hätte nie im Leben geglaubt, dass ich einmal so viele Ukraine-Fahnen in Deutschland sehen würde. Ich hätte nie gedacht, dass das Schicksal der Ukraine einmal so stellvertretend sein würde für die westliche freiheitlich-demokratische Gesellschaft. Ich hätte niemals gedacht, dass ein ukrainisches Staatsoberhaupt eine solche Hochachtung genießen würde, eine solche Galionsfigur werden würde, wie Selenskyj es geworden ist, der vor dem 24. Februar nicht besonders beliebt war in der Ukraine.

Natürlich hat sich auch mein Blick auf Russland verändert. Ich habe auch viel Liebe für die russische Gesellschaft und die russische Kultur - aber das ist schwierig gerade. Auch der Umgang mit der russischen Sprache, mit meiner Muttersprache - dass das einmal die Sprache der Täter werden würde, das tut weh. Das hätte ich mir so auch niemals vorgestellt.

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Es ist ein schwieriges Verhältnis zwischen der deutschen Regierung und der ukrainischen. Wie bewerten Sie das?

Kapitelman: Mir ist nicht verständlich, warum Deutschland die Waffenlieferungen teilweise so sehr verzögert und taktiert hat. Ich verstehe es einfach nicht. Wenn man doch von Zeitenwende sprach, wenn man sich ideell so sehr auf die Seite der Ukraine stellt, warum würde man dann in diesem entscheidenden Punkt so verschleppen und so lavieren. Besonders wenn Deutschland die Rolle in Europa hat als das vielleicht einflussreichste, wirtschaftlich stärkste Land. Das hat auch eine Signalwirkung für andere europäische Partner. Ich verstehe diesen Kontrast nicht zwischen der deutschen ideellen Rhetorik, speziell in der Politik, und dem realen Verhalten im entscheidenden Punkt, nämlich den Waffenlieferungen. Ich finde, da ist die deutsche Politik etwas scheinheilig.

Die Osteuropakorrespondentin Sabine Adler hat gerade ein bemerkenswertes Buch vorgelegt: "Die Ukraine in mir". Sie führt die Traditionslinie der russischen Aggression zurück nach Tschetschenien, zu dem Pipelinebau, der die Ukraine als Transitland ausschalten sollte. Sie sagt: "Schon die Annexion der Krim, die Verschiebung der Grenzen, war der Moment, wo man genau mit den Maßnahmen, mit denen man heute arbeitet, mit den Sanktionen, hätte reagieren müssen, um ein ganz klares Zeichen zu setzen. Russland muss an diesem Punkt gestoppt werden, kommt damit nicht durch." Wie haben Sie das in den letzten Jahren beobachtet, vor dem 24. Februar?

Kapitelman: Im Prinzip ähnlich. Es ist ein riesiger politischer Egoismus gewesen, weiter am russischen Gas festzuhalten. Man hat sich für diesen billigen Rohstoff entschieden und die politischen Kosten, sowohl für die Ukraine als auch für sich selbst, ausgeblendet. Ich finde es unfassbar, dass Frau Schwesig 88,5 Prozent Zustimmung von der SPD kriegt nach dieser scheinheiligen Umweltstiftung, die sie da gegründet hat. Auch die jetzigen Sanktionen sind ja auch nicht der Bestfall. Es sind immer noch russische Zentralbanken davon ausgenommen. Es ist immer noch so, dass unglaublich viel Geld aus Deutschland nach Russland geht.

Was hören Sie von Ihren Kontakten in der Ukraine in diesen Tagen?

Kapitelman: Viele gehen davon aus, dass dieser Krieg noch lange dauern wird, dass es eine Art Pattsituation geben wird. Niemand rechnet damit, dass der Beschuss bald aufhört. Mir hat gestern eine Frau aus Charkiw erzählt: "Mag ja sein, dass das russische Militär Ressourcenknappheit hat, aber von diesen scheiß Raketen haben die scheinbar unendlich viele."

Der Digital-Branchenverband Bitkom hat kürzlich untersucht, dass eine gewisse Nachrichtenmüdigkeit unter Nutzerinnen und Nutzern von Social Media herrscht, was den Krieg in der Ukraine angeht, und dass manche Menschen bewusst Pausen setzen. Können Sie das nachvollziehen? Machen Sie das auch so?

Kapitelman: Das Eine ist die Müdigkeit und die Pause bei der Mediennutzung - das andere die Müdigkeit im politischen Sinne. Zum Beispiel, wenn man sagt: Es ist ja schön und gut, dass die Ukraine für die Freiheit blutet, aber macht Nord Stream 2 trotzdem wieder auf. In Wittenberg gab es heute Proteste, am Wochenende gab es diesen Brief von der Handwerkskammer an Scholz, in dem stand: Das ist nicht unser Krieg. Diese Art von egoistischer Kriegsmüdigkeit, der sich anbahnende Wut-Winter - das macht mir schon Sorgen. Das ist deutlich schwieriger als psychische Pausen vom Gräuel. Von den Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, höre ich immer mehr, dass sie sich hier nicht willkommen fühlen, weil sie hier als wirtschaftliche Schädlinge und Grund der Gaskrise wahrgenommen werden.

Das schockiert mich. Was hören Sie da für Geschichten?

Kapitelman: Ich höre, dass den Leuten gesagt wird: Erst waren es die Syrer, und jetzt kommt ihr und macht uns arm. Geflüchtete werden gebeten, ihre Wohnungen zu verlassen, weil ihnen gesagt wird, dass ihretwegen die Energiekosten steigen und sie deswegen die Wohnung nicht kriegen. Ich weiß nicht, ob man das Rassismus nennen kann, aber es ist auf jeden Fall Ablehnung, Wut und der Vorwurf, dass die Leute mit der Gaskrise, die sie mit dem Krieg hervorgerufen haben, hier den Wohlstand zerstören würden. Und mit ihrem Widerstand - auch das schwingt mit: Wann ergebt ihr euch endlich?

Worauf hoffen Sie?

Kapitelman: Eine Lüge lässt sich nur eine gewisse Zeit lang praktizieren. Im Fall von Putin sind das Millionen Lügen: Es sind ideelle Lügen, politische Lügen und auch wirtschaftliche Lügen. Ich hoffe, dass das irgendwann implodiert. Ich hoffe, dass dem russischen Militär schlichtweg die Ressourcen ausgehen, und ich hoffe aber auch, dass der Westen sich dann nicht mit so einem faulen Frieden zufrieden gibt, in dem Russland die Annexion zementieren kann, sich dann erholt, neue Ressourcen schafft und in sechs Jahren wieder angreift. Ich hoffe, dass die Ukraine stark bleibt, aber auch, dass die westlichen Gesellschaften und Deutschland sich nicht von einem materiellen Egoismus fressen lassen weden in dieser Situation, in der es um weit mehr geht als um Gaspreise.

Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 24.08.2022 | 17:30 Uhr

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