Neubrandenburg und Güstrow: Falsche DDR-Legenden über das Kriegsende

Stand: 11.05.2025 05:00 Uhr

Zwei mecklenburgische Städte, zwei unterschiedliche Schicksale: Während Neubrandenburg am Ende des Zweiten Weltkrieges nahezu komplett zerstört wird, bleibt Güstrow intakt. Zu DDR-Zeiten wird die Geschichte der Befreiung verfälscht erzählt.

von Heiko Kreft

Zum 30. Jahrestag des Kriegsendes wird Semjon Michailowitsch Dmitrewski Neubrandenburger Ehrenbürger. 1945 kommandierte er einen Truppenteil der Roten Armee, der die mecklenburgische Stadt einnahm. Im Interview mit dem Radiosender Studio Neubrandenburg lobt Dmitrewski 1975 den Wiederaufbau: "Aus Schutt und Asche ist Neubrandenburg eine wunderschöne Stadt geworden. Und müsste eigentlich Neu-Neubrandenburg heißen." Tatsächlich wird die Vier-Tore-Stadt am letzten Kriegstag zur Trümmerwüste. Niedergebrannt kurz nach dem Einmarsch der Roten Armee. "85 Prozent der Stadt wurden zerstört", weiß Wiebke Schrader. Sie ist Mitarbeiterin am Regionalmuseum Neubrandenburg und hat gerade eine Ausstellung zum Kriegsende und den Wiederaufbau der Stadt kuratiert.

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Deutsche Flüchtlinge des 2. Weltkrieges © picture-alliance / akg

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Unerträglicher Geruch von verbranntem Fleisch

Der US-amerikanische Pastor Francis Simpson ist damals in Neubrandenburg. Er wird von der Roten Armee aus dem Kriegsgefangenenlager Fünfeichen befreit. Später erinnert er sich an das Grauen. "Wo sich einige Tage zuvor diese hübsche Stadt Neubrandenburg erhob, glaubte ich das Ende der Welt oder das jüngste Gericht zu erleben." In der Innenstadt hätten überall Leichen gelegen. "In der Luft lag ein unerträglicher Geruch von verbranntem Fleisch." Doch wie kam es zur nahezu kompletten Zerstörung? Zu DDR-Zeiten wird die Geschichte verfälscht erzählt: "1945 war die Stadt von faschistischen Durchhalteverteidigern in Brand gesteckt und durch ihre Schuld größtenteils in Schutt und Asche gesunken", heißt es beispielsweise im Bericht des Studio Neubrandenburg. Mit der historischen Wahrheit hat das nur bedingt zu tun.

Neubrandenburg teilt Schicksal mit anderen Orten

Der bronzene Türbeschlag der Neubrandenburger Marienkirche schmolz durch die Hitze beim Brand der Stadt. © Neubrandenburger Regionalmuseum
Der bronzene Türbeschlag der Neubrandenburger Marienkirche schmolz durch die Hitze beim Brand der Stadt.

Tatsächlich verteidigte die Wehrmacht verbissen die "Festung Neubrandenburg". Der Historiker Marco Nase sieht es trotzdem als problematisch an, "dass 40 Jahre lang apodiktisch behauptet wurde, die Rote Armee hätte die Stadt nicht angezündet". Zu sehr ähnelt Neubrandenburgs Schicksal dem anderer Städte der Region, beispielsweise Friedland oder Malchin. "Sie können problemlos einen Indizienprozess führen. In jeder Stadt, in der der russische Vormarsch zum Halten kommt, kommt es zu Plünderung, Vergewaltigung und die Stadt brennt ab." Die später erzählten Gründe für das Niederbrennen variieren. "In jeder dieser Städte entsteht zu DDR-Zeiten - in denen darüber nicht geredet werden darf - immer eine Legende." Manchmal sind es Unfälle, manchmal zurückweichende Wehrmachts-, Partei- oder SS-Einheiten, die die Stadt anzünden."

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Umkämpfte Legenden in Güstrow

"Die Legenden über das Kriegsende haben sich über die Wendezeit hinaus fortgesetzt", urteilt Ingo Sens über die Darstellung der Ereignisse in Güstrow. Anders als Neubrandenburg hat die Barlachstadt das Kriegsende nahezu unzerstört überstanden. Dieses "wundersame" Überleben wird zu DDR-Zeiten ebenfalls politisch vereinnahmt und verfälscht erzählt. 2019 verfasste der Historiker im Auftrag Stadt eine Untersuchung über die tatsächlichen Begebenheiten. Seine Arbeit wurde in Güstrow kontrovers aufgenommen, denn sie stellte die DDR-Geschichtsschreibung infrage. Die feierte die "kampflose Übergabe" Güstrows zumeist als Heldentat kommunistischer Genossen. Ingo Sens bestreitet nicht nur diese "führende Rolle", sondern auch den Begriff "Übergabe". Es habe viele Faktoren gegeben, dass Güstrow am Kriegsende nicht zerstört wurde. Beispielsweise das mutige Agieren von Bürgern. Ein Motiv: Angst. "Sie wussten, was im Osten passierte: Demmin, Anklam, Neubrandenburg, Alt-Strelitz, Prenzlau." Alles Orte, die in den letzten Kriegstagen weitgehend zerstört wurden.

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Mutige Bürger beim Stadtkommandanten

Am 1. Mai 1945 - die Truppen der Roten Armee stehen kurz vor der Stadt - schreibt die Einwohnerin Elisabeth Senf in ihre Tagebuch: "Es konnte Güstrow jede Stunde Kampfgebiet sein. Würde die Stadt verteidigt? Würde sie übergeben? Jeder hoffte das letztere, weil man die Sinnlosigkeit einer Verteidigung empfand." In dieser Situation suchen mehrere Bürger den Stadtkommandanten Ernst Nobis auf. Sie bitten ihn, die Stadt nicht um jeden Preis zu verteidigen. Zur Gruppe gehören unter anderem der Pastor Sibrand Siegert, der frühere Stadtkommandant Walther Staudinger und der frühere Arbeitsamtschef Wilhelm Beltz. Eine mutige Aktion. "Nobis hätte sie, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden, erschießen können. Wegen Hochverrat oder Vorbereitung zum Hochverrat", weiß Ingo Sens. 

Kontaktaufnahme mit der Rote Armee

Obwohl der Österreicher Ernst Nobis das Ansinnen der Einwohner ablehnt, zieht er die verbliebenen Wehrmachtstruppen weitgehend zurück. "Am 1. Mai war kein kriegsverwendungsfähiger Soldat mehr in Güstrow. Was noch da war, waren Verletzte und eine gewisse Nachhut." Entscheidend wird nun eine Aktion von Wilhelm Beltz. In ihrem Tagebuch beschreibt Elisabeth Senf seinen Anruf im Postamt Plaaz, einem Dorf vor den Toren Güstrows. Dort vermutet Beltz die Frontlinie. "Die Postleiterin Frau Wiese war am Apparat. 'Wie weit sind die Russen?' - 'Gerade jetzt sind sie drüben am Bahnhof. Jetzt kommen sie, ich kann nicht mehr sprechen.' Man hörte russische Laute. Die Verbindung war fort." Bei einem weiteren Telefonat mit Plaaz bekommt Beltz Kontakt zu einem sowjetischen Befehlshaber. Er bittet um Schonung der Stadt, bietet an, für Verhandlungen nach Plaaz zu kommen.

Lebensgefährliche Mission

Im Plaazer Postamt verhandelte Wilhelm Beltz über den Einmarsch der Roten Armee nach Güstrow. © NDR
Im Plaazer Postamt verhandelte Wilhelm Beltz über den Einmarsch der Roten Armee nach Güstrow.

Zusammen mit der in Güstrow lebenden Ukrainerin Slata Kowalewskaja als Übersetzerin macht sich Wilhelm Beltz mitten in der Nacht auf nach Plaaz. "Er war Reichswehroffizier und konnte die Lage militärisch einschätzen", sagt Ingo Sens. "Für ihn war klar, wenn ich die Leute vor der Stadt treffe und mich mit den entsprechenden Kommandeuren einige, wird Güstrow bei der Einnahme geschont." Für seine Mission hat Beltz keinerlei politisches oder militärisches Mandat. Er agiert als einfacher Bürger. Unter Lebensgefahr will er die Sowjets überzeugen, dass sie beim Einmarsch in die Stadt nicht in eine Falle geraten. Nach langem Hin und Her gelingt ihm das. Am 2. Mai rückt die Rote Armee Güstrow ein. Der Güstrower Zeichenlehrer Friedrich Schult schreibt in seinem Tagebuch: "Am frühen Nachmittag entfernter Gefechtslärm. Alles geht in die Keller. Ich steige auf das Dach und beobachte einige wenige verirrte Einschläge in Richtung der Pfarrkirche und der Schweriner Vorstadt." 

Plünderungen und Vergewaltigungen

Auch wenn die Rote Armee ohne große Kampfhandlungen Güstrow einnimmt. Gewalt gibt es dennoch. Die sowjetischen Soldaten plündern die Stadt, vergewaltigen Einwohnerinnen. "Albrechts erschienen in zitternder Aufregung und erzählten, dass ihre Tochter, Mutter von zwei kleinen Mädels, zwölfmal vergewaltigt worden sei", notiert Elisabeth Senf in ihrem Tagebuch. Kein Einzelfall. Friedrich Schult ist in diesen Stunden im Güstrower Rathaus. Zusammen mit anderen Persönlichkeiten der Stadt wird er zu einem Gespräch mit dem sowjetischen Befehlshaber kommandiert. Doch der lässt sie warten. "Mitternacht. Es sieht ganz danach aus, als ob das Stück, zu den wir geladen sind, entweder vom Spielplane abgesetzt oder auf eine noch ungewisse Stunde verschoben ist", schreibt Schult in seinem Tagebuch.

Historisches Treffen im "Erbgroßherzog"

Schließlich werden die wartenden Bürger doch empfangen. "Gegen halb fünf überraschend zum Kommandanten in den 'Erbgroßherzog' gerufen." Doch die Begegnung im größten Hotel der Stadt ist "höchst nüchtern". "Alles in allem keine Begrüßung von Mensch zu Mensch. Begriffen, daß wir nur willkommene Befehlsempfänger sind", notiert Schult. "Die Stadt war besetzt. Da brauchte man keine Übergabe mehr zu machen", ordnet Historiker Ingo Sens ein. Zu DDR-Zeiten wird dieses Treffen von Siegern und Besiegten anders dargestellt, die Begegnung im Hotel "Erbgroßherzog" 1975 in einem Auftragsgemälde festgehalten. Mit historischen Details wird eher frei umgegangen. Auf dem Bild sind Personen zu sehen, die gar nicht dabei waren. Zum Beispiel der spätere hohe SED-Funktionär Klaus Sorgenicht. Andere, die dabei waren, werden dagegen nicht gezeigt. Zum Beispiel der Güstrower Pastor Klein.

Umgeschriebene Geschichte

Dass es sich bei der Darstellung auf dem Gemälde nicht um künstlerische Freiheit, sondern um bewusstes Umschreiben der Geschichte handelt, zeigt die Entstehungsgeschichte des Bildes. Wer auf dem Bild erscheint und wer nicht - darüber bestimmen auch regionale SED-Funktionäre mit. Die Richtung gab ein paar Jahre zuvor eine Artikelserie in der Parteizeitung "Schweriner Volkszeitung" vor. Auch dort wird die wahre Geschichte von der Befreiung Güstrows zurechtgebogen. "Die eigentlichen Protagonisten wie Sibrand Siegert und Wilhelm Beltz finden nur in der Fußnote statt", erzählt Ingo Sens. Für ihn ist das eindeutig Geschichtsklitterung. Den meisten Güstrowern sei auch damals klar gewesen, "dass die lieben Kommunisten ganz woanders waren. In ihren Kellern. Es waren die sogenannten Bürgerlichen und Sozialdemokraten, die aktiv wurden."

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