Sommerfestival auf Kampnagel startet mit "Navy Blue"
Es ist das künstlerische Highlight im Sommer im Norden: Heute startet das Internationale Sommerfestival in der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg.
"Hier sind wir in einer Garderobe in der K1, nebenan wird geprobt, und das ist der Raum, wo dann die Nervosität vor der Vorstellung mit am höchsten ist", sagt Festivalleiter András Siebold. In der trügerischen Stille ahnt man etwas von der Aufregung vor der Premiere. "In der K6 zum Beispiel probt gerade Oona Doherty, die nicht nur wir momentan für die interessanteste Choreographin Europas halten. Hamburg ist sozusagen die Startrampe, bevor sie dann auf Welttournee geht."
"Navy Blue" von Oona Doherty: Choreographie über die Farbe Blau
Rachmaninows zweites Klavierkonzert ist der Humus, in den die Choreografin ihr Stück "Navy Blue" pflanzt. Eine Meditation über die Farbe Blau, über ihre eigene Depression, sagt sie -und lächelt.
Oona Doherty kommt aus Nordirland, erzählt eine Geschichte über Krise und Trost, über die menschliche Unfähigkeit, aus den Kriegen der Vergangenheit zu lernen. Sie nennt es trocken die "Algorithmusschleife der Scheiße". Die Arbeit mit einem internationalen zwölfköpfigen Ensemble wirkt schmucklos, blank, transparent, wie von Trauer durchzogen.
Schwarze Kultur spielt zentrale Rolle
András Siebold weiß, dass die Künstler und Künstlerinnen selbstredend auch die Gegenwart und deren Krisen reflektieren. Trotzdem ist ihm der Spaß-Faktor beim Festival wichtig: "Wir wollen eigentlich, dass die Leute in eine Atmosphäre kommen, in der sie sich treiben lassen, sich wohlfühlen, sich vielleicht öffnen für verschiedene Genres, verschiedene Themen, für eine internationale, sehr bunte Weltgesellschaft."
Schwarze Kultur spielt eine zentrale Rolle. Das Kult-Puppen-Epos aus Kanada "The Season" ist wieder zu Gast, Florentina Holzinger wird mit viel Körper-Exzess in die Unterwelt abtauchen. Genau das erwarte auch das Publikum: Exzess! "Die kommen auch hierhin, weil sie was erleben wollen: Theaterschlaf können sie woanders haben!", so Siebold.
Pop-Up-Architektur im Avant-Garten beim Sommerfest Kampnagel in Hamburg
Erholung vom Exzess findet das Publikum gleich nebenan, im Festivalgarten, dem Avant-Garten. Zum ersten Mal seit Corona-Beginn entsteht hier wieder ein Spiel- und Begegnungsort, auch mit Lesungen, moderiert vom NDR. "Vielleicht eine Überraschungswohlfühloase", findet Franz Thöricht vom Gestaltungsduo Jascha&Franz.
Seltsame faltbare Objekte ducken sich unter den Bäumen und rostigen Kränen. "Vieles von dem, was wir machen, entfaltet sich. Das erzählt Pop-Up-Architektur, Dinge, die temporär sind, Dinge, die flexibel sind und Schutz vor Regen bieten, Schutz vor Sonne", erklärt sein Partner Jascha Kretschmann.
"52 Jokers" - zwischen Lebensbeichte und Sinnsuche
Nur ein paar Meter hinein in die Hallen von Kampnagel, und man betritt eine andere Welt, die Welt von Little Annie. Eine Atmosphäre wie in einem angesagten New Yorker Club der 70er-Jahre. Die Sängerin Annie Bandez hat New Yorks vielleicht kreativsten Jahre miterlebt, mitgeprägt. In dem Stück "52 Jokers" erzählt sie vom Kartenspiel ihres Lebens, zärtlich, brüchig, verletzbar. Davon, wie Seelen "ineinander rennen", es gehe um - dabei klopft sich Annie auf die Brust - es gehe es um das, was dahinter liegt: um das Herz. Um etwas, für das es keine Worte gibt.
Paul Wallfisch hat einige der Songs komponiert und hatte die Idee zu diesem Stück, einem Abend zwischen Konzert und Performance, zwischen Lebensbeichte und Sinnsuche, Liebe und - "Es gibt auch sehr viel Hass hier, Frust, sehr viel Leidenschaft, da kommt alles zusammen", sagt Wallfisch. "Es gibt sicher eine Riesensehnsucht nach Liebe, dem Ausdruck von Liebe, der Annahme von Liebe."
Oder wie sagt es Choreografin Oona Doherty? "Vielleicht bedeutet das alles gar nichts, all der Tanz, die Kunst. Aber wenn nicht, dann lass uns wenigstens einander in den Arm nehmen."
