Martin Walser zum 95. Geburtstag: "Ein Chronist der Gefühle"
Martin Walser ist am Donnerstag 95 Jahre alt geworden. Wir gratulieren und blicken zurück auf ein wichtiges, prägendes Kapitel deutscher Literaturgeschichte. Ein Gespräch mit Joachim Dicks aus der NDR Kultur Literaturredaktion.
Wofür steht der Name Martin Walser?
Joachim Dicks: Er steht für so viel, dass es gar nicht leicht fällt, es in wenige Worte zu fassen. Das Erste, was mir einfällt, ist Kontinuität. Seit seinem Romandebüt "Ehen in Philippsburg" aus dem Jahr 1957 gab es kaum ein Jahr, in dem Martin Walser kein Buch veröffentlicht hat.
Nach Kontinuität steht der Name Martin Walser für mich vor allem für Eigenwilligkeit. Er ist immer wieder gegen den Strom geschwommen und hat sein Gesicht gegen den Wind gestellt, auch wenn es stürmisch wurde. In den 60ern galt er als Kommunist, weil er gegen den Vietnamkrieg Stellung bezog. In den 80ern galt er als Nationalist, weil er sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden wollte. Und als 2002 sein Roman "Tod eines Kritikers" erschien, galt er vielen auf einmal als antisemitisch. Dabei hat er seine wichtigste literarische Quelle nie versiegen lassen: seine Verletzlichkeit und seinen Sinn für Schönheit. Diese Verletzlichkeit und dieses Bemühen um die Ästhetisierung der Welt kann manchmal auch nerven. Aber Walser - das verdient allerhöchsten Respekt - hat sich durch das Urteil von anderen niemals von seinem Weg abbringen lassen.
Wenn man auf die Literaturgeschichte nach 1945 schaut, fallen neben Walser auch die Namen Uwe Johnson, Peter Weiss, Peter Handke, Günter Grass. Gerade Günter Grass stand mit Walser in einer besonderen Beziehung. Was war das - eine Freundschaft oder eher ein Konkurrenzverhältnis?
Dicks: Freundschaft und Konkurrenz schließen einander ja nicht aus. Sie haben so viele Gemeinsamkeiten: Beide sind Jahrgang 1927. Sie begegnen sich in den 50er-Jahren in der legendären Gruppe 47. Sie veröffentlichten ihre ersten Romane und haben beide sehr schnell sehr großen Erfolg. Beide verstehen sich als politisch engagierte Schriftsteller und melden sich auch zu tagespolitischen Ereignissen regelmäßig zu Wort und mischen sich ein. Dass sie dabei nicht immer einer Meinung sind, stört sie wohl beide nicht. Auch wenn sie sich teilweise jahrelang nicht trafen, haben Sie sich nie aus dem Blick verloren.
Martin Walser hat einige Jahre nach dem Tod von Günter Grass einmal gesagt, dass er "im Unterschied zu vielen anderen Grass nie verloren" habe, "egal, wie oft sie gegeneinanderstanden und wie sehr die Öffentlichkeit versucht" habe, sie "gegeneinander auszuspielen". "Immer wenn wir uns sahen", so hat er es formuliert, "hatte ich das Gefühl einer unverbrüchlichen Gefühlsechtheit".
Mit Martin Walser sind auch Kontroversen und heftige Debatten verbunden. 1998 gab es die Rede in der Frankfurter Paulskirche - was war da los?
Dicks: Martin Walser erhielt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und hat in seiner Dankesrede an diesem ehrwürdigen Ort auch über Auschwitz und die Art des Gedenkens an den Holocaust gesprochen. Er wollte davor warnen, aus der Art des öffentlichen Gedenkens keine Art religiöses Ritual zu machen. Als er es in seinen Worten aber als Instrumentalisierung bezeichnet hat, waren viele geschockt. Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, warf Walser vor, von den Nazi-Verbrechen wegsehen zu wollen, und bezeichnete seine Rede als "geistige Brandstiftung". Walser bedauerte, dass er mit seinen Worten für Irritation gesorgt habe, blieb aber in der Sache fest. Er ist diese Rede nie wieder losgeworden. Wer aber sein Werk kennt, weiß, dass man ihm damit nicht gerecht wird.
Aber diese Rede ist vielleicht auch ein Symptom für Walser insgesamt: Manchmal riskierte er lieber das Missverständnis, bevor er seine Stimmung unterdrückt und nicht in Worte fasst. Das ist also insofern immer ein Teil dieses literarischen Lebens. Diese Rede ist ihm nicht zufällig unterlaufen.
Ein heftiger Kritiker war immer auch Marcel Reich-Ranicki. Es waren Fehden, die Walser bis heute beschäftigen, auch in seinem in diesen Tagen erschienenen "Traumbuch". Warum hat Walser mit Reich-Ranicki seinen Frieden nicht gefunden?
Dicks: Reich-Ranicki ist für Walser mehr als nur ein Kritiker, mehr als nur ein Mensch. Er ist ein Symbol, was unsere Wirklichkeit geprägt und ausgemacht hat. Reich-Ranicki hat die Bücher des frühen Walser über den grünen Klee gelobt und hat vielleicht dadurch auch zu seinem sehr großen Erfolg beigetragen. Später hat Reich-Ranicki aber auch derbe Verrisse geschrieben. Legendär wurde seine Überschrift "Jenseits der Literatur" über Walsers Roman "Jenseits der Liebe". Er bezeichnete die Lektüre dieses Buches als reine Zeitverschwendung. Für Walser war es so ziemlich das Übelste, was er sich vorstellen konnte.
Sicherlich hat die Literaturkritik immer mal wieder über die Stränge geschlagen. Auch darüber kann man nachdenken: Inwiefern sollte ein Kritiker zu solch derben Urteilen kommen? Walser selbst hat nie negativ über andere geurteilt. Seine Essays über andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller hat er deshalb auch unter dem Titel "Liebeserklärung" veröffentlicht. Aber diese Reibepunkte, wie die mit Reich-Ranicki, waren für den Schriftsteller Walser immer wichtig. Auch wenn er sie nicht mag, so weiß er sicher auch, dass er ihnen viel verdankt. Und Dankbarkeit ist auch eine Art Frieden, oder?
Könnte man vielleicht so sagen. Einen großen Roman hat Walser in den letzten Jahren nicht mehr geschrieben. Tatsächlich waren es eher die kurzen Texte, Gedichte, alles eher nachdenklich. Ist der alte Dichter müde geworden?
Dicks: Vielleicht. Aber vergessen wir nicht, dass Martin Walser seinen 95. Geburtstag feiert. Vielleicht ist es also nicht Müdigkeit, sondern Gelassenheit. Es scheint, als könne er sich immer mehr einverstanden erklären mit dem, was ist, als könnte er die Dinge so sein lassen, wie sie sind. Und als bräuchte er sie nicht mehr schöner machen und schöner schreiben durch seine Literatur. Wenn am Anfang der Literatur die Poesie steht und die Prosa erst aus ihr hervorgegangen ist, dann kommt Walser jetzt möglicherweise in seine poetische Phase. Seine Poesie sind dann weniger die Gedichte, sondern Traumgeschichten. Vielleicht arbeitet er aber im Hintergrund insgeheim auch an seinem Opus Magnum, einem Jahrtausend-Roman, dem Schlussstein seines Werkes, den er uns dann zu seinem 100. Geburtstag vorlegen möchte. Für Überraschungen war Walser immer gut. Möge sich daran so bald nichts ändern. Das jedenfalls wünsche ich ihm und uns zu seinem Jubeltag.
Das Interview führte Claudia Christophersen
