Kritik an Schule: Ist unser Bildungssystem noch zeitgemäß?
Deutsche Schulleiterinnen haben zuletzt harsche Kritik am deutschen Bildungssystem geäußert. Auch René Mounajed, Vorsitzender des Niedersächsischen Schulleitungsverbandes, sieht erheblichen Reformbedarf.
Eine aktuelle Studie im Auftrag des Schulbuchverlags Cornelsen ergab: Eine Mehrheit der deutschen Schulleiterinnen und Schulleiter wünscht sich eine Reform der Stundenpläne, der Fächerkanon seit nicht mehr zeitgemäß. Im Interview mit NDR Kultur spricht René Mounajed über Fehler und neue Ansätze.
Das deutsche Bildungssystem sei noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen: Das ist eine Kritik, die lautstark aus den eigenen Reihen kommt. Freut es Sie, dass dieser Unmut sich auf diese eindeutige Weise artikuliert?
René Mounajed: Ja und nein. Ich freue mich darüber, weil ich das auch denke. Und weil ich denke, dass wir in den letzten 20 Jahren gravierende Fehler im Bildungssystem gemacht haben. Das sagen die Verbände immer wieder. Und nun wird es laut- das finde ich gut. Auf der anderen Seite ist es natürlich sehr traurig, dass es diesen Befund gibt und dass so viele Schulleiterinnen und Schulleiter auch zu diesem Ergebnis kommen.
Fürs Leben lernen, das war schon immer ein Ziel. Statt "Schönschreiben" zählen zu den Lebenskompetenzen heute eher Gesundheit, Ernährung, Demokratie und digitale Bildung. Die kann man sich auf bestehende Fächer natürlich zurechtbiegen. Aber das reicht offenbar nicht.
René Mounajed: Nein, das reicht nicht. Die Bildungssysteme sind immer angepasst worden, dafür ist es mal wieder Zeit. Für mich ist es ein sehr verkrustetes System, was wir haben. Ist die Bildung noch zeitgemäß, muss man fragen. Nein, ist sie nicht. Man merkt ja, dass zum Beispiel Firmen längst selbst auf den Weg gehen und eigene Bildungsräume schaffen. Ich habe das mal erlebt, dass ein großer Konzern einen eigenen Makerspace gebaut hat, mit 3-D-Druckern, weil er sagte: Es ist besser, die Schüler lernen das hier bei uns, als gar nicht. Die Schulen müssen ausgestattet werden. Sie brauchen neue Bedingungen und neue Rahmen.
Sie selbst sind Schulleiter der Robert Bosch Gesamtschule in Hildesheim. Wann waren Sie das letzte Mal so richtig frustriert über bestehende Lehrpläne beziehungsweise Stundenpläne?
René Mounajed: Das bin ich eigentlich jeden Tag. Die Frage ist ja immer: Ist der Unterricht relevant für die Schülerinnen und Schüler? Nur dann kann ich sie mitnehmen. Man muss sich schon fragen: Was mache ich da in der Veranstaltung, welche Fächer unterrichte ich, was brauchen junge Menschen, um in der Welt da draußen zu bestehen, aber auch um mündige Menschen zu sein? Da ist im Moment viel heiße Luft in den Curricula, und die müssen entrümpelt werden. Ich glaube auch, man muss neue Fächer bauen. Fachübergreifende Projekte müssen Vorrang haben. Und natürlich brauchen wir einen Grundkanon. Es wird immer eine Schule geben, die Mathe, Deutsch und Englisch unterrichtet. Aber ich denke, über alle anderen Dinge kann man nachdenken, inwiefern man sie in Projekten beispielsweise zielgerichtet unterrichten kann.
Nun sind Schulleiterinnen und Schulleiter auch Teil des Systems. Hatten die bisher so wenig Spielräume, strukturelle Veränderungen voranzutreiben, die sie jetzt einfordern?
René Mounajed: Zum Teil ja. Die Aufgabenstruktur hat sich verändert, also Schulleiter wird man nicht das Geldes wegen, sondern einfach, weil man Schule gestalten möchte. Die Eigenverantwortlichkeit der Schulen muss weiter gestärkt werden. Die Schulen müssen selber vor Ort entscheiden können: Was ist wichtig? Was brauchen unsere Schülerinnen hier und jetzt?
Muss man sich denn künftig um einzelne Fächer Sorgen machen, wenn der Kanon verändert werden soll? Was könnte zum Beispiel rausfliegen?
René Mounajed: Rausfliegen ist das falsche Wort. Ich glaube, es wird anders verbunden werden. Man kann doch Fächer gut miteinander kombinieren zu übergeordneten Einheiten und Projekten. Und ich glaube, das wird das Entscheidende sein, wie es gelingen kann. User System ist sehr träge - bis sich so etwas durchsetzen kann, da wird es noch lange dauern. Ich ergreife gerade Chancen. Es gibt in Niedersachsen das Projekt der Zukunftsschule. Das hat der Kultusminister gerade aufgelegt. Da macht auch meine Schule mit. Wir versuchen jetzt, an den Grundfesten zu rütteln und gucken, was passiert. Mehr ist im Moment sowieso noch nicht drin. Und ich hoffe sehr, dass sich das langfristig durchsetzt und wir wirklich dieses Projektlernen mehr institutionalisieren können. Unterricht muss sich immer daran messen lassen, ob er relevant für die Schülerinnen ist.
Welche zeitgemäßen Projekte sind denn zuletzt besonders gut angenommen worden?
René Mounajed: Heute hatten wir an der Schule zum Beispiel einen "My Day" installiert, das heißt, alle Schülerinnen und Schüler dieser Schule haben an einem Projekt gearbeitet. Dazu kamen außerschulische Bildungspartner: Unternehmen von um die Ecke, Journalisten von der hiesigen Presse, die Lokalpolitiker, die Bundestagsabgeordneten waren da und haben die Schülerinnen und Schülern mit ihren Projekten begleitet. Wir haben also ist einen Prozess, dass Schülerinnen, Schülern sich selber Gedanken darüber machen, wie sie Bildung verändern wollen. Wie wollen sie unsere Schule ganz konkret verändern? Das bedeutet, Schülerinnen werden in den Bildungsprozess selber mit einbezogen, ihre Meinung ist wichtig und wird von uns unterstützt, so gut es geht. Und wir holen uns außerschulische Professionals dazu. Ich glaube, das ist zum Beispiel ein Schlüssel, der sehr gut funktioniert. Und man hat dabei sofort die intrinsische Motivation, die man für Lernprozesse braucht. Wir erreichen so nicht alle, das sage ich auch gleich, aber wir erreichen sehr viele, und wir freuen uns darüber, dass das vielleicht ein Schritt sein kann, wie man Bildung auch mal anders denken kann.
Das Gespräch führte Philipp Cavert.
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