"Habitat": Tanz als unverkrampfter Zugang zur Nacktheit
Die Herrenhäuser Gärten in Hannover haben die österreichische Choreografin Doris Uhlich zur Nacktheit inspiriert. Diese interessiert sie nicht als dramaturgischer Effekt, sondern als Notwendigkeit für eine körperliche Recherche, erzählt sie im Interview.
Ihr Stück "Habitat" hat international großes Aufsehen erregt, wurde in Köln, Kopenhagen oder Kärnten aufgeführt. Für die KunstFestSpiele Herrenhausen hat Doris Uhlich eine eigene Version kreiert. Hier feiert die Choreografin das Fest für alle Körper, alle Altersgruppen, alle Geschlechter. Das Stück ist eine Hymne auf den nackten Körper jenseits von herkömmlichen Schönheitsidealen. Am 24. und 25. Mai schnalzen, vibrieren im Großen Garten nackte Körper, tanzen und klatschen zu elektronischen Sounds und abstrakten Techno-Tracks. Vorher ist die Choreografin Doris Uhlich zu Gast in NDR Kultur à la carte und spricht mit Andrea Schwyzer über Ideen, Tanz und Musik.
Frau Uhlich, diesen Barockgarten haben Sie besucht, um sich Tanzraum, den Sie bespielen dürfen, anzuschauen. Was ist das für ein Garten für Sie? Was haben Sie da entdeckt und wie haben Sie ihn erforscht?
Doris Uhlich: Als ich vor einigen Monaten zum ersten Mal in Hannover in den Gärten spazieren war, war das sehr spannend. Der barocke Garten beinhaltet sehr viel Symmetrie und Disziplinierung der Natur. Es gibt sehr viele Wasserspiele und die große und hohe Fontäne ist auch sehr beeindruckend. Es war schon sehr klar für mich, dass diese Symmetrie und auch diese gestutzten Sträucher nach individuellen Körpern rufen. Es war so, als wenn der Garten zu mir sagt, bring mir die Nackten. Aber was in dem Garten auch sehr toll ist, dass es Abschnitte gibt, wo sehr wilde Natur herrscht. Das ist was, was mir sehr gefallen hat. Der Garten hat auch sehr viele Widersprüche.
Ist das ein Garten, in dem Sie sich wohlfühlen? Gerade zu Beginn, mit dieser Symmetrie habe ich gedacht, vielleicht sind Sie da mit ein bisschen Unbehagen durchgelaufen?
Uhlich: Nein, ich würde sagen, auch Symmetrie hat ihre Schönheit, genauso wie Chaos und Unordnung. Aber diese Barockzeit ist sehr widersprüchlich in sich. Rein körperlich ist sie für mich spannend, weil in der Barockzeit war fett sein en vogue. Also der fette, der eher opulente Körper war willkommen. Insofern fühle ich mich dort zu Hause.
Wie schwer fällt es den Zuschauerinnen und Zuschauern, Nacktheit als was ganz Natürliches zu sehen? Ich frage das, weil die Nacktheit im Theater-Kontext oft auf der Bühne schon fast ein bisschen überheblich belächelt wird. Aber so ganz wohl fühlen sich viele dann im Publikum doch nicht. Merken Sie, dass es noch Berührungsängste gibt, dass die Nacktheit - das Natürlichste der Welt - in diesem Kontext doch nicht natürlich ist?
Uhlich: Es gibt noch immer den Überraschungseffekt. Es wird keine Überraschung sein, dass sich Menschen ausziehen, sondern wir sind nackt. Mich interessiert eine Nacktheit nicht als dramaturgischer Effekt, sondern als Notwendigkeit für eine körperliche Recherche. Das heißt, es gibt Bewegungen, die nur nackt möglich sind, weil Kleidung den Körper zu sehr bedecken würde. Wenn du nackt bist und du springst, kann der Popo fliegen, die Brüste können fliegen und der Penis schwingt. Ich glaube, hier bin ich sehr genau. Es geht mir um einen unverkrampften Zugang zur Nacktheit.
Jeder Mensch auf dieser Erde wird nackt geboren, egal wo. Wir sind blutverschmiert, schleimverschmiert und kommen noch immer aus einem Mutterbauch heraus. Anschließend werden wir gewaschen, getrocknet und eingekleidet. Eigentlich ist die Nacktheit unser erstes Kostüm. Aber wir verlieren im Laufe des Lebens einen natürlichen Zugang zur Nacktheit. Ich würde sagen, wir verlernen den Zugang zu diesem ersten Kostüm, aufgrund von Erziehung, Sozialisierung und Grundstrukturen oder auch aufgrund von Kulturkreisen, in denen Nacktheit verboten ist.
Es gibt verschiedene Zugänge zur Nacktheit und auch Ansichten zur Nacktheit, die man in einem Habitat - wenn man das möchte und sich meldet - bearbeiten kann. In Habitaten ist es so, dass Menschen kommen, die meist auch zum ersten Mal vor Publikum nackt sind und für die die Nacktheit auch ein politischer Motor ist, weil dieses Ausziehen für sie bedeutet, zum eigenen Körper zu stehen und sich nicht zu genieren, sondern diese Kraft auszuschütten, die in jedem Körper stecken kann: Den Körper als Epizentrum von Veränderungen zu verstehen.
Das Gespräch führte Andrea Schwyzer. Einen Ausschnitt davon lesen Sie hier, das ganze Gespräch können Sie oben auf dieser Seite und in der ARD Audiothek hören.
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