"Holocaust war nebenan": Unterrichtsmaterial über jüdische Kinder
Ein pensionierter Geschichtslehrer aus Ostholstein hat die Schicksale von fünf jüdischen Familien in Lübeck für den Unterricht aufbereitet und dabei vor allem die oft vergessenen Kinder und Jugendlichen in den Blick genommen.
Es ist der 12. Juni 1941, als die zehnjährige Lübeckerin Margot Prenski ihrer Freundin Marjon ins Poesiealbum schrieb: "Kein langes Gedicht: Nur die drei Worte - Gott schütze dich." Sie litt zu dieser Zeit massiv unter den Repressionen der Nazis - wie viele jüdische Kinder und Jugendliche. Viele ihrer Geschichten seien jedoch weitgehend vergessen, sagt Günter Knebel, pensionierter Geschichtslehrer aus Ratekau.
Motivation durch Identifizierung mit jüdischen Jugendlichen
Was jungen Jüdinnen und Juden und ihren Familien passiert ist, wie sie die Zeit der Diskriminierung, der Verfolgung und des Terrors erlebt haben - und ob sie den Holocaust überlebt haben? Die Antworten hat Günter Knebel für fünf Lübecker Familien zusammengetragen und in Unterrichtsmaterialien gegossen, "weil ich mir davon erhoffe, dass den Schülern dieses Material eher entgegenkommt, dass sie sich mit damaligen Kindern und Jugendlichen identifizieren können und sie sich dadurch motivieren können, die Geschichte ein Stück weit selbst zu rekonstruieren", sagt Günter Knebel.
Die Fotos und Texte sind in Pappschachteln verpackt - wie alte Archivkisten. Darin: Familienfotos, Bilder, die das Leben der jungen Jüdinnen und Juden beschreiben, ein Fußball oder eben die Seite aus dem Poesiealbum, in das Margot Prenski schrieb. Die Schülerinnen und Schüler ab dem neunten Jahrgang sollen die Familiengeschichten und damit auch die Geschichten der insgesamt 17 jüdischen Kinder und Jugendlichen selbst erforschen und sich gegenseitig in Gruppen präsentieren.
Günter Knebel: Inspiriert durch Besuche in Jerusalem
Inspiriert haben Günter Knebel Besuche der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, wo die Schrecken des Holocausts anhand einzelner Schicksale erzählt werden, die Jüdinnen und Juden aber nicht als Opfer, sondern auch als Überlebende zeigen. "Es gibt hier natürlich furchtbare Dinge, die die Schüler erfahren - zum Beispiel, dass die Geschwister Hanna und Hermann Mecklenburg nach Auschwitz deportiert und ermordet werden. Es gibt aber auch positive Geschichten: Josef und Berthold Katz und Peter Mansbacher überleben, schreiben ihre Erfahrungen auf und überliefern sie der Nachwelt", erzählt Knebel.
Auch mit Schülerinnen und Schülern hat der ehemalige Geschichtslehrer viele Gedenkfahrten unternommen, unter anderem nach Auschwitz. Auch dort waren die Jugendlichen mit den Schicksalen gleichaltriger Jüdinnen und Juden konfrontiert. Prägende und eindrückliche Erfahrungen für Käthe-Marie Wieseler, 17 Jahre alt, und Lucja Nara Koll, 19 Jahre alt, Schülerinnen am Ostseegymnasium Timmendorfer Strand: "Mitzubekommen, dass man immer weniger Rechte und kein Mitspracherecht hat - es hatte ja keinen Grund - das wäre für mich das Schlimmste. Einfach nicht frei sein zu dürfen, rausgehen zu dürfen, was man sonst jeden Tag macht." Und: "Sie waren im gleichen Alter wie wir und hatten das ganze Leben vor sich. Ich bekomme häufig die Frage gestellt, was ich nach dem Abitur mache. Ich finde es beängstigend, dass sie überhaupt nicht die Möglichkeit dazu hatten."
Das Ziel: Jugendliche sollen sich stark machen gegen Rechtsextremismus
Nicht einmal ein halbes Jahr nachdem Margot Prenski ins Poesiealbum ihrer Freundin schrieb, wurde sie mit ihren älteren Brüdern nach Riga deportiert, wo sie ermordet wurden. Kinder und Jugendliche - so wie die Schülerinnen und Schüler, die Günter Knebel künftig nicht nur mit Gedenkstättenfahrten, sondern auch mit seinen neuen Unterrichtsmaterialien erreichen will. Er hofft, dass sie nicht nur etwas über den Holocaust lernen. Er will, dass sie sich fragen: Was hat das alles mit mir und meinem Leben zu tun? Und dass sie sich stark machen gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus. "Es wird ja leider nicht weniger. Es wird mehr", sagt Knebel. "Da stellt sich die Frage: Was kann man dagegen tun? Und ich hoffe, dass das Unterrichtsmaterial ein Stück weit dazu beiträgt."
