"Bullenhuser Damm" - ein interaktives Videogame zum Erinnern
80 Jahre nach Kriegsende wird das Erinnern an die Gräueltaten der Nazis immer schwieriger. Viele Jugendliche wissen kaum noch etwas darüber. Die Hamburger Gedenkstätten gehen nun einen neuen Weg. Bei den Jugendlichen kommt das gut an.
Darf man über eines der schrecklichsten Verbrechen, das die Nazis je verübt haben - über die "Kinder vom Bullenhuser Damm" - ein Videospiel machen? Und schafft man so wirklich einen neuen Zugang für Jugendliche, um sich besser an lange vergangene Gräueltaten zu erinnern? Die Antwort: zweimal ein dickes Ja!!
"Ich fand's toll das Spiel, weil man die Mischung von Freude, Interaktivität und Geschichte zugleich hatte, und dadurch habe ich auch mehr gelernt darüber", sagt ein Junge. Eine Mitschülerin fügt hinzu: "Das Spiel war cool, und es war auch sehr schön gestaltet. Vor allem konnte man sich in die Lage der Kinder damals reinversetzen." Ein anderer Junge findet einen Vergleich: "Ich fand, das war wie eine interaktive Doku, weil man sich darin bewegen und dann Sachen anklicken konnte, die dann erklärt wurden."
Aber von vorn. Die Klasse S7 der Brecht-Schule Hamburg besucht an diesem Vormittag die Gedenkstätte Bullenhuser Damm in Rothenburgsort. Vom Schicksal der jüdischen Kinder haben die 12- bis 14-Jährigen bis dahin noch nie gehört.
Kein pietätloses Nachspielen
"Hier in dieser ehemaligen Schule sind am 20. April 1945 20 jüdische Kinder von SS-Leuten ermordet worden", erklärt Gedenkstättenpädagoge Gunnar Geertz und erzählt weiter, was hier kurz vor Kriegsende passiert ist. Noch vor wenigen Wochen hätte er "nur" erzählt, wäre dann mit ihnen durch die Ausstellung und Taträume gegangen - jetzt baut er nach einer kurzen Einführung das Videospiel ein. Ganz wichtig ist ihm: "Ihr spielt nicht die Geschichte der Kinder - ihr spielt Erinnern."
Das Spiel, das von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zusammen mit Paintbucket Games entwickelt worden ist, spielt nicht etwa pietätlos die Ereignisse der Tatnacht durch. Es setzt erst deutlich später an. Gespielt wird aus der Perspektive von fünf Jugendlichen, die in den späten 1970er-Jahren in die Schule am Bullenhuser Damm gehen. Denn hier lief, bevor der Ort zur Gedenkstätte wurde, jahrzehntelang noch ein normaler Schulbetrieb.
Mit dem Erinnern ins nächste Level
Die Spielfiguren stoßen jede für sich auf Ungereimtheiten. Und die Schüler von heute gehen mit ihnen auf Entdeckungsreise. Zum Beispiel mit dem Punker Karsten. "Ich glaube, sein Opa war Soldat im Krieg und jetzt möchte er herausfinden, was genau sein Opa im Krieg gemacht hat", sagt ein Junge. Sein Mitschüler erklärt: "Wir müssen Erinnerungen finden, und dann können wir erst weitergehen ins nächste Level."
Was sind das für Holz-Stockbetten auf dem Dachboden, die Karsten für den Werk-Unterricht auseinanderbauen soll? Warum wurden mitten im Krieg die Fenster der Schule am Bullenhuser Damm zugemauert? Viele der Schülerinnen und Schüler habe eine Idee - und der Punker Karsten ärgert sich, warum die Eltern und Großeltern nicht einfach erzählen können, was damals war. Am Ende des ungefähr 45 Minuten langen Spiels hat die 7. Klasse der Brecht-Stadtteilschule ganz schön viel herausgefunden, etwa dass damals kaum jemand wusste, dass die Räume dort für Versuche an Kindern genutzt wurden.
Viel eindringlicher als Bücher und Vorträge
Interessant zu beobachten: Über den detektivischen Ansatz des Spiels werden die Schülerinnen und Schüler richtig in die Geschichte hineingezogen. "Ich glaube, wenn man dann im Unterricht sitzt und in einem Buch lesen muss, macht das nicht so viel Spaß. Ich finde, mit dem Videospiel konnte man viel verstehen", sagt eine Schülerin.
Im Anschluss gehen sie sehr offen und interessiert durch die Ausstellung und an den Tatort. Dem Erinnerungsspiel, das jetzt auch für den Deutschen Computerspielpreis nominiert ist, gelingt es, die Jugendlichen auf eine neue Art und Weise für das Thema zu interessieren. Sie haben Freude am Lernen, selbst wenn die Ereignisse lange zurückliegen mögen und durchaus schwer zu verdauen sind. Auch der Gedenkstättenpädagoge Gunnar Geertz ist begeistert: "Das entwickelt sich total gut. Wenn ich die Kinder erlebe, wie die damit umgehen, was bei denen ankommt und wie das für das Thema öffnet, dann ist das eine großartige Sache."
