Marione Ingram bein einem Interview im Studio des NDR © Screenshot NDR
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AUDIO: Holocaust-Überlebende Ingram: Angst vor "faschistischem Amerika" (10 Min)

Marione Ingram: "Vielleicht wird Amerika nicht faschistisch"

Stand: 09.11.2022 19:12 Uhr

Der erwartete Erdrutschsieg für die Republikaner bei den US-Kongresswahlen ist ausgeblieben. Ein Gespräch mit der Holocaust-Überlebenden und gebürtigen Hamburgerin Marione Ingram, die in Washington D.C. lebt.

Sie beobachtet die politische Situation in den USA genau. Es gibt Menschen, an deren Geschichte zeigt sich fast die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. So ein Mensch ist ohne Frage Marione Ingram: Die gebürtige Hamburgerin ist heute 86 Jahre alt.

Marione Ingram: "Bin erleichtert, dass Trumpismus nicht triumphiert hat"

Als Jüdin hat Marione Ingram den Holocaust nur überlebt, weil sie während des Hamburger Feuersturms 1943 untertauchen konnte. Nach der Befreiung ist sie in die USA ausgewandert, wurde engagierte Bürgerrechtsaktivistin und Künstlerin. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Washington D.C.

Frau Ingram, auch Sie haben am Dienstag Ihre Stimme abgegeben. Nach allem, was man momentan sagen kann, ist es nicht der erwartete Erdrutschsieg für die Republikaner. Das hat viele überrascht - Sie auch?

Marione Ingram: Ja, Gott sei Dank. Ich habe monatelang sehr darunter gelitten, dass Amerika wirklich ein faschistisches Land wird. Die Angst, die ich als Kind in Nazi-Deutschland hatte, ist wieder aufgetaucht. Ich hatte beinahe jede Nacht Albträume und habe sehr oft demonstriert. Ich habe schon gedacht, dass mein Mann und ich das Land wieder verlassen werden. Amerika war für mich ein Zufluchtsort, als ich Deutschland verlassen habe - und jetzt ist es umgekehrt: Ich fühle jetzt, dass Deutschland für mich vielleicht ein Zufluchtsort ist.

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Ich bin ein bisschen erleichtert, dass Trump nicht gewonnen hat - er hat aber auch nicht verloren. Wir hatten uns schon entschlossen, das Land zu verlassen, wenn die Republikaner diese Midterm-Wahlgewinnen sollten.

Sie haben das also von dieser Entscheidung abhängig gemacht und würden jetzt bleiben? Denn noch ist alles sehr in der Schwebe.

Ingram: Genau. Ich habe nur zwei Stunden geschlafen, ich war die ganze Nacht wach und habe Radio gehört und Fernsehen gesehen, um zu erfahren, wer gewählt wurde. Da es nicht so gekommen ist, wie vorhergesagt wurde, nämlich dass die Republikaner alles mit Abstand gewinnen, haben wir uns entschlossen, dass wir die nächsten zwei Jahre kämpfen werden.

Wie erklären Sie sich, dass das doch nicht das eingetreten ist, was viele vorhergesagt hatten?

Ingram: Ich habe gehofft, dass die Amerikaner aufwachen und merken, dass die Demokratie wirklich in Gefahr ist. Es scheint, dass noch ein kleines bisschen Hoffnung da ist. Ich halte mich jetzt an diese kleine Hoffnung. Es sieht ein bisschen besser aus für Amerika, aber auch für die ganze Welt. Die Gefahr war nicht nur für Amerika da, sondern für die ganze Welt, weil Amerika immer noch sehr großen Einfluss hat. Ich bin ein bisschen erleichtert, dass der Trumpismus nicht triumphiert hat.

Sie haben gesagt, Sie sind erleichtert, dass die USA doch kein faschistisches Land geworden sind ...

Ingram: Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir nicht ein faschistisches Land werden! Wir werden sehen, wie diese Wahl sich entscheidet. Aber ich glaube, die Gefahr ist ein bisschen kleiner.

Warum wählen Sie diese harten Worte wie "faschistisch"?

Ingram: Man sieht es, und ich fühle das. Und da ich das erlebt habe, kann ich das auch erkennen. Ich war zu der Zeit ein Kind und habe die Politik nicht verstanden. Aber ich habe die Gefahr und die Angst gespürt. Und jetzt, da ich erwachsen bin, verstehe ich die Politik. Aber die Angst hat mich nicht verlassen.

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Woran machen Sie das im Alltag fest, dass dieser "Faschismus" dort mehr und mehr Einzug findet?

Ingram: Ich bin eine Bürgerrechtsaktivistin, und alle Rechte, die wir in den 60er- und 70er-Jahren gewonnen haben, wurden unter Ronald Reagan wieder weggenommen. Das passierte ganz langsam, so dass das manche nicht gemerkt haben. Die Geschichte ist vergleichbar mit der, als Hitler an die Macht gekommen ist. Reagan hat den Hass gegen Einwanderer und insbesondere gegen Schwarze losgetreten. Und da habe ich gedacht: Das ist so ähnlich wie Hitler das mit den Juden gemacht hat - die Juden haben an allem Schuld.

Wo erleben Sie das jetzt aktuell, oder wo haben Sie das in der Trump-Zeit erlebt?

Ingram: Trump ist viel schlimmer und eine viel größere Gefahr. Den Anfang hat Reagan gemacht und Trump den Schlusspunkt. Wenn die Republikaner bei dieser Wahl nicht gewinnen, wie es vorhergesagt wurde, dann ist das eine Chance, dass Amerika vielleicht kein faschistisches Land wird.

Sie sind Bürgerrechtsaktivistin. Wie sieht Ihr Engagement aus, um einen Teil dazu beizutragen, dass die Spaltung der USA überwunden werden kann?

Ingram: Ich werde weiter kämpfen.

Bei Trump war es überraschend, dass er gewählt wurde, obwohl wir wussten, was er für ein Mensch ist. Er hat dann angefangen, sich mit Hass gegenüber anderen Menschen zu äußern - genau wie es in Deutschland gemacht wurde. Und dagegen hat sich kein Protest gebildet. Beinahe fünf Monate lang haben wir jeden Tag vor dem Weißen Haus protestiert, und da haben wir schon gemerkt, dass seine Unterstützer diesen Hass, den er ausgelöst hat, übernehmen. Ich denke, dass es ein bisschen unfair wäre, wenn ich abhaue und den Kampf aufgebe. Ich werde bis 2024 warten - und wenn Trump dann gewinnt, dann gehen wir weg.

Seit Trump an der Macht war, hat sich Amerika dazu entschlossen, keinen Unterricht an den Schulen zu machen, der sich mit der Geschichte von Amerika befasst. Das ist in allen Staaten so, wo ein Republikaner Gouverneur ist: Sie sagen, sie werden nichts über die Sklaverei oder über die Native Americans unterrichten. Das ist das Gegenteil in Deutschland: Es hat lange gedauert, bis Deutschland auf seine Vergangenheit geschaut hat und die Geschichte genau so erzählt hat, wie sie war. Das passiert jetzt nicht in Amerika, und das ist gefährlich für ein Land. Die Gefahr ist, dass du immer dieselben Fehler machst, wenn du nicht lernst, was deine historische Geschichte ist.

Das Gespräch führte Jan Wiedemann.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 09.11.2022 | 16:15 Uhr

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Zeitgeschichte

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