Gutachten belastet Papst Benedikt XVI. und Kardinal Marx
Das Erzbistum München und Freising hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, um die Fälle sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen in der Zeit von 1946 bis 2014 aufzuarbeiten. Nun wurde das 1.600-seitige Gutachten vorgelegt.
Florian Breitmeier aus der Redaktion Religion und Gesellschaft hat sich einen ersten Eindruck davon verschaffen.
Ist da am Donnerstag in München eine Bombe geplatzt? Oder war es doch nur das Erwartbare?
Florian Breitmeier: Zunächst hat sich erneut bestätigt, dass die katholische Kirche lange Zeit bei dem Missbrauchsthema vor allen Dingen den Schutz der eigenen Institution im Auge hatte und für die Betroffenen kein Interesse zeigte. Das ist auch in anderen Studien, anderen Bistümern deutlich geworden. Das Besondere an diesem Gutachten war, dass die Verfehlungen bis hinein in die oberste Kirchenspitze reichen, auch einen emeritierten Papst betreffen, nämlich Benedikt XVI., der ja auch einmal Erzbischof von München und Freising war. Vier Verfehlungen weisen ihm die Gutachter in dem Dokument nach.
Was wirft man ihm da vor?
Breitmeier: Es ist deutlich geworden, dass Joseph Ratzinger aufgrund der Recherchen der Rechtsanwälte zumindest sehr wahrscheinlich Kenntnis davon gehabt hat, dass ein im Bistum Essen auffällig gewordener Missbrauchstäter später im Erzbistum München und Freising eingesetzt wurde. Es war lange Zeit eine Diskussion darüber, ob Joseph Ratzinger davon überhaupt Kenntnis gehabt habe. Er hat noch in einer Einlassung für eben dieses Gutachten im Herbst 2021 gegenüber den Rechtsanwälten in München erklärt, er habe nicht an einer Sitzung am 15. Januar 1980 teilgenommen, wo über die Einsetzung dieses Klerikers beraten wurde. Die Rechtsanwälte haben ein Protokoll hervorgezogen, wo keine Abwesenheitsnotiz Ratzingers verzeichnet ist - es sind sogar Erklärungen von Ratzinger in diesem Dokument hinterlegt, sodass es als nicht glaubwürdig gelten kann, dass Joseph Ratzinger angeblich nicht daran teilgenommen habe. Der Kirchenrechtler Thomas Schüller wird dort eindeutiger: Er sagt, Joseph Ratzinger habe mit dieser Aussage die Axt an die Kirche gelegt. Das ist natürlich auch eine ganz entscheidende Frage für die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche, wenn nun auch ein emeritierter Papst sich nicht daran erinnern kann oder will, dass er an dieser Sitzung offenbar teilgenommen hat.
Was hätte das möglicherweise für Konsequenzen? Ratzinger ist emeritiert, er hat auch keine kirchlichen Ämter mehr. Verpufft dann alles?
Breitmeier: Nein, es geht um etwas sehr Entscheidendes für Joseph Ratzinger: Es geht um das Bild von einem zweifellos großen Theologen, der am Ende seiner Lebenszeit mit einem solchen Vorwurf konfrontiert ist, gelogen zu haben, dass er womöglich davon Kenntnis hatte, dass dieser Priester dort eingesetzt wird. Es wird sehr spannend sein, wie Joseph Ratzinger darauf reagiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das einfach so stehen lässt, denn die Vorwürfe gegen ihn sind sehr massiv. Hier geht es auch um das Bild, dass der Papst vielleicht auch von sich selbst hat, aber auch, wie er in Zukunft gesehen wird. Denn kein Geschichtsbuch, kein Nachruf, keine Einschätzung seiner Tätigkeit wird ohne dieses Münchener Gutachten auskommen.
Auch Kardinal Marx kommt in diesem Gutachten nicht gut weg. Was ist ihm vorzuwerfen?
Breitmeier: Es gibt zwei Fälle, die die Gutachter hier markieren, wo er hätte über diesen Fall informieren müssen. Der schwerwiegende Vorwurf gegenüber Kardinal Marx lautet, dass er bis zum Jahr 2018 kein großes Interesse an den Betroffenen sexualisierter Gewalt und deren Schicksal gezeigt habe. Er wird als ein Mann dargestellt, der vor allen Dingen delegiert hat, die Verantwortung, die Aufarbeitung, auch das Nachverfolgen von möglichen Missbrauchsvorwürfen seinem Generalvikar überlassen hat und sich als Erzbischof mehr in der Rolle des Verkünders des Wortes Gottes sah.
Aber das ist schon eine kritikwürdige Haltung aufgrund der Bedeutung des Missbrauchsskandals für die katholische Kirche. Vor allen Dingen nach 2010, als die Erzbischöfe und Bischöfe immer wieder versprochen hatten, das jetzt verstanden zu haben. Und dann von den Gutachtern bescheinigt zu bekommen, man sei bis 2018 unzureichend auf den Missbrauchsskandal eingegangen und habe den Betroffenen nicht die nötige Beachtung geschenkt - das ist ein schwerer Vorwurf.
Wie wird Papst Franziskus reagieren? Denn Kardinal Marx hatte ja schon mal ein Rücktrittsgesuch eingereicht wegen dieser "katastrophalen Zustände".
Breitmeier: Im Vatikan werde man nun das Münchner Missbrauchsgutachten erst einmal genau studieren. Das spricht nicht dafür, dass innerhalb der nächsten Tage oder Wochen eine Reaktion von Franziskus kommt. Es wird spannend sein, was in der nächsten Woche passiert: Da hat Kardinal Marx eine Pressekonferenz in München angekündigt. Auch er muss dieses Gutachten erst einmal lesen. Ob da schon Konsequenzen gezogen werden, muss man sehen. Er hat am Donnerstag auch schon ein kurzes Statement vor der Presse abgegeben, hat sich erschüttert und beschämt gezeigt und um Entschuldigung gebeten. Er wirkte in diesem Pressetermin auf mich aber nicht so, dass er unmittelbar davor steht, seinen Rücktritt anzubieten, sondern er möchte weiter an dieser Aufgabe arbeiten.
Inwiefern ist die Kirche sich selbst die größte Bedrohung? Was verursacht das für Schaden an ihrer Glaubwürdigkeit?
Breitmeier: Das sind natürlich massive Vorwürfe. Die katholische Kirche ist eine sehr machtvolle Institution. Das Entscheidende wird jetzt sein, dass man diesen Paradigmenwechsel bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt hin zu den Betroffenen vollzieht und stärker davon wegkommt, ob jetzt Kardinal Marx zurücktritt oder was der emeritierte Papst Benedikt XVI. gewusst hat. Das Entscheidende ist die Hinwendung zu den Betroffenen, da muss die Kirche handeln.
Das Gespräch führte Jürgen Deppe.
