Gegen das Piepen im Kopf: Musiktherapie für Tinnitus-Patienten

Stand: 27.04.2022 13:37 Uhr

Zwei von zehn Menschen in Deutschland leiden unter chronischem Tinnitus. Ein Gespräch mit Annegret Körber von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Rostock.

Frau Körber, was passiert da im Gehör?

Annegret Körber: Wir erleben dieses eher musikalische Phänomen: Pfeifen, Klingeln, Summen, Rauschen, Zischen, Brummen. Das ist die Wahrnehmung. Wir gehen davon aus, dass die Filterfunktion des Gehirns beeinträchtigt ist. Das Gehirn filtert ständig unsere akustischen und visuellen Eindrücke und nimmt das raus, was für uns wichtig ist. Wenn dieses Filtersystem überlastet ist, dann kommt es zu Tinnitus-Erscheinungen. Dann ist das Gehirn nicht mehr in der Lage, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden, und es setzt so ein Dauergeräusch ein.

In dem Bereich, in dem ich arbeite - Veranstaltungen, Konzerte - treffe ich ständig Menschen, die mir sagen, dass sie Tinnitus haben - der sei für sie aber ganz normal und störe sie nicht. Sie arbeiten in der Praxis mit Menschen, die richtig leiden, oder?

Körber: Genau, es ist auch wichtig, das zu unterscheiden. Kopf- oder Ohrgeräusche kennt eigentlich jeder Mensch, und das ist etwas zutiefst Natürliches. Geräusch und Klang ist ja auch immer ein Hinweis auf Lebendigkeit - wenn es vollkommen still ist, dann gibt es kein Leben mehr. Insofern muss uns das auch nicht ängstigen. Problematisch wird es nur, wenn es sich chronifiziert.

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Wie schlimm kann das werden?

Körber: Das kann so schlimm werden, dass die Menschen tief verzweifelt sind und dass sie suizidal werden, weil sie den Eindruck haben, dass sie das nie mehr verlässt und sie keine Kontrolle mehr darüber haben. Bei der Chronifizierung geht die Wahrnehmung immer stärker in Richtung des Tons geht, sodass alles drum herum verschwindet. Diese eingeschränkte Wahrnehmung auf den Tinnitus-Ton bringt eine große Verstimmung und Depressivität bis zur Suizidalität mit sich. Aber das ist schon ein hoher Schweregrad. Wir arbeiten mit Menschen, die schon unter dem chronischen Tinnitus leiden, die aber noch ein gewisses Funktionsniveau im Alltag haben.

Sie sind Musiktherapeutin und Gruppenanalytikerin. Warum hilft da die Arbeit in einer Gruppe?

Körber: Wir nutzen die Gruppenwirkfaktoren, und da passiert etwas ganz Wesentliches: die Universalität des Leidens, das Zusammenkommen mit anderen Betroffenen in einem geschützten Setting. Das hat tatsächlich einen starken Effekt: Ich bin mit dem, was mich belastet, nicht alleine; andere leiden auch darunter; wir kommen in Austausch. Das können Betroffene am besten untereinander: Das ist die Situation von gegenseitigem Trost und von Verständnis.

Inwiefern nähern Sie sich denn Patientinnen und Patienten, die diese Schwierigkeiten haben, mit Musik?

Körber: Wir haben hier eine ambulante Gruppenmusiktherapie zur Tinnitusbewältigung und das Programm hat drei Schwerpunkte: Der erste Schwerpunkt ist der Austausch in der Gruppe. Der zweite Schwerpunkt, das sind die musiktherapeutischen Methoden. Da geht es darum, den Tinnitus-Ton zu externalisieren, also das, was nur im Inneren gehört wird, rauszusetzen und im Äußeren wiederzufinden. Da gibt es immer Entsprechungen in den Klängen der Natur, aber auch bei den Instrumenten.

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Sie versuchen das quasi zu kopieren?

Körber: Ja, "kopieren" könnte man sagen, das klingt so ein bisschen technisch. Wir suchen eine Entsprechung und versuchen damit zu experimentieren und auch spielerisch umzugehen. Denn die erste Reaktion ist ja der Wunsch, das weghaben zu wollen: Das möchte ich nicht mehr hören. Das ist aber nicht so, denn der Tinnitus klingt und klingt und klingt. Wir gehen anders damit um und rücken das noch mal ins Zentrum. Das entlastet und das nimmt auch etwas von dieser Katastrophisierung, dass das nur etwas ist, was in mir ist. Nein, das finde ich auch wieder.

Können Sie beschreiben, wie das konkret funktioniert? Laufen Sie durch den Wald und lauschen mit den Patienten oder arbeiten Sie mit Instrumenten?

Körber: Ja, wir arbeiten mit Instrumenten. Wir haben viele elementare Instrumente, die etwas Tonales nachbilden, zum Beispiel eine Regenröhre. Wenn ich das selbst benutze in so einer freien Improvisation, dann kann ich das selber kontrollieren und selber Einfluss nehmen. Die Instrumente geben die Möglichkeit, sich selber mit Klang zu beschäftigen. Ein Anliegen der Tinnitus-Behandlung ist auch der Zugang zu der eigenen natürlichen Musikalität, mit dem Verständnis, dass Tinnitus ein musikalisches Phänomen ist.

Inwiefern ist das ein musikalisches Phänomen? Viele Leute würden ja erst mal sagen: Das nervt mich, das stört.

Körber: Aber das Phänomen an sich ist ja ein Klang, ein Geräusch. Und wenn wir einen ganz weiten Begriff von Musik haben, dass sämtliche Geräusche und Klänge dazugehören, und wir das als Musik im weitesten Sinne verstehen, dann ergibt sich so die Möglichkeit, anders damit umzugehen, dass dieser Störungsaspekt an Gewicht verliert.

Das Interview führte Mischa Kreiskott.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 27.04.2022 | 16:00 Uhr

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