Junge Ballettschülerinnen und -schüler tanzen bei einer Probe © picture alliance/dpa Foto: Christian Charisius

Ballett in der Krise? "Es muss sich mental vieles ändern"

Stand: 16.06.2022 17:06 Uhr

Bereits 2020 stand die Berliner Ballettakademie in der Kritik, dass bei der Ausbildung mit den Mitgliedern nicht gut umgegangen worden sei. Ähnliche Erkenntnisse gibt es jetzt an der Züricher Tanzakademie. Ein Gespräch mit der Tanzkritikerin Dorion Weickmann.

Frau Weickmann, 2020, 2022 - das ist relativ spät für solche Erkenntnisse über Internate und Akademien, oder?

Dorion Weickmann: Relativ spät - das kann man sagen, wenn man bedenkt, dass es in einem Bereich spielt, der sehr exponiert ist und wo es schon sehr lange Gerüchte und Vermutungen gibt, dass da nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Es hat natürlich mit #metoo zu tun, was ganz deutlich Missstände an die Oberfläche gebracht hat und die Leute ermutigt hat, den Mund aufzumachen. Man sieht in Zürich jetzt auch wieder ganz deutlich, dass ab einem gewissen Zeitpunkt der Deckel hochfliegt, wenn er lange genug auf dem Dampfkochtopf war. Und so ist es sowohl in Wien gewesen, als auch in Berlin, als auch jetzt in Zürich.

Die Betroffenen, die da zu Wort kommen, sind alle noch relativ jung. Was denken Menschen, die in den 90er-Jahren oder noch früher an Ballettakademien waren, über die Zeit damals?

Weickmann: Das ist sehr unterschiedlich. Für viele war das normal; die sagen: Der Job ist so hart und darauf muss man entsprechend vorbereitet sein. Andere haben es in einer schrecklichen Erinnerung und sagen, dass es im Grunde genau das war, was wir heute in der Öffentlichkeit haben: Gewichtsregime, Mobbing, Belästigung. Alles, was heute eine Rolle spielt, hat es damals offenbar auch schon gegeben, aber es hat keiner öffentlich gemacht - das ist der große Unterschied. Für die Ausbildung ist das jetzt eine ganz große Chance, all diese Dinge hinter sich zu lassen, auch wenn es sehr schwierig ist.

Man hat es nicht öffentlich gemacht aus Autoritätenhörigkeit? Oder auch, weil alle gemeinsam daran geglaubt haben: Wenn ich diszipliniert bin, dann schaffe ich es auch?

Weickmann: Ich glaube, eine sehr große Rolle spielt dabei auch die Konkurrenz. Es gibt sehr viele begabte Menschen, die es schaffen können, ganz nach oben zu kommen. Und trotzdem finden die sich irgendwann in Konkurrenz um Arbeitsplätze wieder. In Deutschland haben wir ein Ausbildungssystem, das sehr viele Tänzer und Tänzerinnen ausbildet. Wenn diese dann den Übergang in den Beruf haben und sehen, dass sie auf einmal in einem sehr anstrengenden Alltag stehen, dann sagen sie: Das war hart - ich lasse es aber jetzt hinter mir und muss jetzt zusehen, dass ich nicht in den vorderen Rängen tanze.

Das andere ist, dass es einfach dazugehört hat. Man hat, seit diese Ausbildung angefangen hat, einfach diese Härte gehabt. Im ganzen 20. Jahrhundert war es keine Frage, dass es halt so ist, dass man das ertragen muss. Wir sehen es auf vielen Feldern erst jetzt, dass bestimmte Dinge, die man vielleicht vor zehn Jahren noch durchgewunken hätte, heute nicht mehr gehen.

Wenn ich mir anschaue, wie lange Menschen auf Zehenspitzen stehen und wie sehr sie ihre Körper dehnen können, dann kann ich mir gar nicht vorstellen, dass das ohne Schmerzen geht.

Weickmann: Es geht nicht ganz ohne Schmerzen, das ist richtig. Man muss mit dem Körper an die Grenze gehen. Die Frage ist - und das passiert sehr oft: Muss man darüber hinausgehen? Wir sehen, dass es in dem Bereich immer noch zu viele Pädagogen und Pädagoginnen gibt, die nicht das Rüstzeug dafür mitbringen. Sie waren vielleicht selber tolle Tänzer und Tänzerinnen, aber sie haben dieses Gespür nicht. Deswegen können sie es auch nicht wirklich so weiter vermitteln, dass Körper geschont werden. Wenn ich mit dem Körper jahrelang so umgehe, dann ist er irgendwann ruiniert - deswegen sind diese Karrieren auch so kurz. Schmerzen gehören also vermutlich dazu, aber keine ständigen Schmerzen, die Dauermedikation mit Schmerzmitteln erforderlich machen. Das kann nicht sein.

Ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt sind die Eltern, die ihre Kinder ins Ballett in eine Leistungsklasse schicken. Sie müssen wissen, dass es Hochleistungssport ist und sie müssen da auch entsprechend kritisch draufgucken. Bisher hat man leider immer noch das Gefühl, dass die Eltern sagen: Es ist doch etwas Wunderbares, da kommt was Tolles bei raus. Aber das geht nicht - Eltern haben da eine Verpflichtung draufzugucken. Und wenn sie das Gefühl haben, dass es nicht gut ist, was passiert, dann sollten sie Alarm schlagen.

Am Beispiel der Recherchen in der Tanzakademie Zürich war ich sehr überrascht, was die Ernährung angeht. Im Spitzensport weiß man seit langem, dass es nicht darum geht, möglichst dünn zu sein oder möglichst wenig zu essen. Das ist da aber so: Die rechnen noch mit BMI.

Weickmann: An dieser Stelle muss man auch ein paar Dinge aus der Praxis gerade rücken. Wenn wir heute ins zeitgenössische Ballett gehen, sehen wir hochathletische Tänzer und Tänzerinnen. Wir sehen enorm hohe Hebungen, die man in der Regel nur mit einem bestimmten Gewicht ausführen kann. Es heißt: Was über 52, 53, 54 Kilo geht, ist schwierig, da führt kein Weg dran vorbei. Da sollte man auch nicht drumherumreden. Aber man muss trotzdem ganz klar sehen, dass die Frauen sich gesund halten und trotzdem in dieses athletische Ideal passen. Oder man muss sich von diesem athletischen Ideal verabschieden. Alles zusammen geht nicht.

Verändert sich das Bild, wenn man auf die großen Compagnien schaut? Oder nehmen die einfach die Leute, die irgendwo im Osten ausgebildet worden sind, wo noch hart geschult wird?

Weickmann: Es verändert sich durchaus. Man sieht in den großen Compagnien, aber auch in den kleineren, immer mehr Tänzer und Tänzerinnen, die nicht mehr diesem Superslim-Ideal entsprechen, die aber enorm ausdrucksvoll sind. Genauso was die Hautfarben, die Ethnien, selbst was die Gender angeht, sieht man inzwischen schon eine Diversität, die man vor ein paar Jahren noch nicht gesehen hat. Und das ist auch gut so.

Es muss sich in dem ganzen Bereich mental vieles ändern, Dinge, die man für selbstverständlich hielt, auch dass Choreografen und Choreografinnen die Alleinherrschaft haben. Es sind alles kollektive Geschichten, und die müssen eigentlich in der Ausbildung angelegt sein. Wenn die Ausbildung Einzelkämpfertum propagiert - und das tut sie zu einem ganz großen Teil - und keine Kreativität, sondern, dass stur getrimmt und gedrillt wird, dann gibt es ab einem gewissen Punkt ein Problem in den Theatern, wo Kreativität und Kollektivität zunehmend gefordert wird. Da fällt vieles auseinander, was zusammengebracht werden muss, damit es wieder stimmt.

Das Interview führte Mischa Kreiskott.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 16.06.2022 | 16:15 Uhr

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Tanz

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