Martin Tschechne © Sinja Schwarz Foto: Sinja Schwarz

Warum der Journalismus seine Souveränität besser verteidigen sollte

Stand: 07.05.2022 06:00 Uhr

von Martin Tschechne

Im besten Fall: sterbenslangweilig - im schlimmsten Fall: Fake News

Freiwillig also. Eine Frage der Vereinbarung. Englische und amerikanische Journalisten lachen sich kaputt über so viel Willfährigkeit und Kleinmut. Denn natürlich geht es nicht um Missverständnisse und sachliche Fehler! Was in erster Linie zählt, ist die Möglichkeit zur Revision der eigenen Taktik: Dies und das habe ich gesagt - aber wie werden die Kollegen das aufnehmen? Welchen Nutzen könnte die Konkurrenz daraus ziehen? Schadet es meiner Karriere, wenn ich aus dem Nähkästchen plaudere? Man hätte sich das alles ja auch vorher überlegen können. Und ist es nicht grundsätzlich ein Problem, die Debatte aus den eigenen Zirkeln hinaus in eine größere Öffentlichkeit zu tragen?

Nein, es ist eine Pflicht! Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, Fragen zu stellen oder dies durch ein Medium tun zu lassen. Im Fall der Wissenschaft oder des Stadttheaters bezahlt sie für den Betrieb, in dessen Tun sie Einblick fordert. Im Fall der Politik steckt dahinter das legitime Interesse an der Arbeit der gewählten Volksvertreter. Zu fragen also bleibt: Ist ein Interview noch ein Interview, wenn ihm die spontane Unmittelbarkeit heraus redigiert wurde? Natürlich nicht! Viel eher schon ist es ein Kommuniqué, eine amtliche Verlautbarung im Tarnanzug eines Gesprächs auf Augenhöhe. Im besten Fall sterbenslangweilig, im schlimmsten: eine Verdrehung der Tatsachen. Fake News. Und der Interviewer, der das Gespräch eigentlich hätte führen sollen, hat sich zurückstufen lassen zur Schreibkraft, die gehorsam und gratis Werbefläche in ihrem Medium bereitstellt. Journalismus sei die vierte Macht im Staate? In solchen Konstellationen hat sich die Branche alle Instrumente aus der Hand nehmen lassen.

Den Medien tut das nicht gut. Unmittelbar vielleicht gerade noch: Hurra, wir haben ein Interview mit XY! Auf lange Sicht ergibt sich daraus der Ausverkauf eigener Kompetenz. Was Product Placement, also das scheinbar beiläufige Platzieren von Luxusautos oder Markenklamotten im Film ist, das ist solches Vortäuschen einer Gesprächssituation in journalistischen Medien: Der Konsument wird hinters Licht geführt. Wenn er es merkt, ist es zu spät. Dann hat der Journalismus seine Glaubwürdigkeit verspielt. Und wozu noch Geld bezahlen für ein Verlautbarungsorgan oder eine Werbebroschüre?

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Wer ist eigentlich der Autor?

Zugegeben: Epidemiologische Modellierungsprogramme oder die geostrategischen Optionen einer neuen Energiepolitik - das sind hoch komplexe Sachverhalte. Aber genau da liegt der Zweck eines Interviews: Der fachlich gründlich vorgewärmte Journalist fragt den Kenner der Materie nach den Mechanismen und Hintergründen und bohrt so lange nach, bis die Zusammenhänge erkennbar und Widersprüche offensichtlich werden. Ach bitte, diesen Begriff sollten Sie doch noch mal genauer erläutern. Nur so entgeht das Gewerbe dem Vorwurf der Beliebigkeit. Und nur so können die Virologin und der Bundeskanzler, die Parteivorsitzende, der Hochwasserschutzbeauftragte und die Familienministerin Sinn und Nutzen ihrer Arbeit begründen. Sich also ehrlich machen.

Was sich aus alledem ergibt ist ein grundsätzliches Problem: Wenn ein Interview oder gar - was inzwischen auch gern mal zur Bedingung für eine Auskunft gemacht wird - ein Text aus der Feder eines Reporters erst autorisiert werden soll: Wer ist dann der Autor? Wer trägt die Verantwortung? Ein Artikel in der Zeitung oder ein Interview, das unter dem Namen einer Journalistin oder eines Journalisten erscheint, aber vorher von einem anderen autorisiert werden musste, ist Etikettenschwindel.

Warum nicht das Kind beim Namen nennen?

Ein Vorschlag also zur Güte: Viele Medien haben es sich angewöhnt, offenen Einblick in ihre Arbeitsbedingungen zu gewähren. Das Interview haben wir vor der Sendung aufgezeichnet - und wer einen Blick dafür hat, der erkennt genau, wo ein Stottern oder ein gar zu lang ausgezogener Gedanke herausgeschnitten wurde. Oder: Folgende Quellen waren Grundlage unserer Recherche. Oder: Die Reise unseres Reporters wurde finanziert von XY; weitere Vergünstigungen wurden nicht entgegengenommen. Warum also nicht unter ein gedrucktes Interview schreiben: Der Text wurde nach dem Gespräch vom Gesprächspartner oder von dessen PR-Beratern gegengelesen und überarbeitet. Er wurde also, sagen wir es offen: Er wurde zensiert.

Und noch ein Vorschlag: Wie wäre es denn, wenn sich beide Seiten auf eine offene Form des Umgangs miteinander einigen könnten? Dazu gehört es, nicht etwa auszuweichen oder herumzudrucksen, sondern gleich zu reagieren, wenn eine einzelne Frage oder das ganze Interview in eine falsche Richtung läuft. Sigmar Gabriel hat das mal mit Marietta Slomka vorgemacht. Und plötzlich wurde aus dem ritualisierten Rollenspiel ein richtig spannendes Gespräch.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 07.05.2022 | 13:00 Uhr

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Journalismus

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