Verzweifelter Mann sitzt am Bürgersteig © imago/INSADCO

Warum Armutsbekämpfung mehr braucht als Barmherzigkeit

Stand: 15.07.2022 17:26 Uhr
Verzweifelter Mann sitzt am Bürgersteig © imago/INSADCO
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von Beatrix Novy

Mitleidsökonomische Angebote

Und heute? Auf die Gefahr, dass bestimmte Formen der Wohltätigkeit zum Ersatz für Rechtsansprüche werden könnten, weist seit kurzem der paradoxe Begriff der Mitleidsökonomie hin. Er entstand in einem Forschungsprojekt der Ruhrgebiet-Universitäten Dortmund und Duisburg-Essen zur wachsenden Zahl wohltätiger Initiativen, allen voran die populären Tafeln. Wer nicht selbst schon für die Tafel übriggebliebene Lebensmittel aus Großbäckereien und Supermärkten abgeholt hat, kennt bestimmt jemanden, der es tut. Den Erfolg der Idee belegen ihre vielen Helfer.

Wo sonst kann man bei der Beseitigung von gleich zwei unerträglichen Zuständen mittun: hier skandalöse Not mitten im Überfluss, dort permanente Lebensmittel-Vernichtung. Wenige Konzepte ehrenamtlicher Tätigkeit sind so einleuchtend; und allein die drängenden Entsorgungsprobleme in Küche und Keller unzähliger Haushalte versprechen ja im Charity-Bereich jederzeit Erfolgserlebnisse. Der Haken, den die Wissenschaftler des Forschungsprojekts an den Tafeln und anderen Initiativen gefunden haben, liegt zunächst schon in der erstaunlichen Menge der Projekte. In fünf Bundesländern fanden sie rund 6.000, betreut von über 1.400 Organisationen. Die Wortschöpfung "Mitleidsökonomie" beruht unter anderem darauf, dass Markt und Staat im Wohltätigkeitssektor durchaus eine Rolle spielen. Neben den ehrenamtlichen Helfern kommen in vielen Fällen fest angestellte Mitarbeiter, etwa über Wohlfahrtsverbände, hinzu, so wie nicht unerhebliche staatliche Förderung zu den Spendeneinnahmen. So erheblich, dass der Leiter der Studie resümierte: 90 Prozent der mitleidsökonomischen Angebote seien "mit den sozialstaatlich verfassten sozialen Dienstleistungen eng verzahnt".

Daran knüpfen die Wissenschaftler ihre Grundsatzkritik: Sie fürchten den Gewöhnungseffekt, wenn an die Stelle des Rechtsanspruchs wieder im großen Stil das Almosen tritt. Ein gut funktionierender Verteilungs-Sektor verleitet zur mentalen Verstetigung, zur Akzeptanz der Verhältnisse. Die notorisch überforderte Kommune, die ihre Aufgaben vorerfüllt sieht, setzt vielleicht nicht mehr alles daran, sie selbst zu übernehmen. Armut wird normal, der historisch überwundene Zustand, der die Bedürftigen unsicheren Gnadenerweisen aussetzt, kehrt zurück.

Über das Helfen hinausdenken

Die Freiwilligen an der Front, in den Essensausgaben und Kleiderkammern, können mit der Kritik aus dem Elfenbeinturm wenig anfangen. Sie wollen die Dinge ja eben nicht laufen lassen, sie setzen sich nicht bei Charity-Galas in Szene, sie tun etwas. Sie dürfen also fragen, ob Bürgersinn und Solidarität nicht ein Wert an sich sind. Oder was gegen staatlich subventionierte Jobs in ehrenamtlichen Initiativen spricht. Ob die Verteilung überschüssiger Lebensmittel nicht schon deshalb sinnvoll ist, weil Gesetze sie nicht regeln und Behörden sie nicht leisten könnten. Und ob die Abhängigkeit von freiwilliger Initiative ärger ist als die von einem unwilligen Sachbearbeiter. Eine Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht, kann vielleicht nicht so wählerisch sein, wenn es darum geht, die Folgen zu lindern.

Trotzdem sollten gerade die Engagierten die Gewöhnungsgefahr ernst nehmen, die in einem weitgespannten System der Mildtätigkeit steckt. Seit dem letzten Jahr regt sich in vielen Teilen der Gesellschaft eine Politisierung, wie es sie lange nicht gab. Vor der Übermacht der Begriffe Deregulierung, Automatisierung, Globalisierung nicht zu kapitulieren, heißt über das Helfen hinausdenken und -fordern. Man könnte dann, nur ein Beispiel, beim bedingungslosen Grundeinkommen landen.

Armut nicht zu akzeptieren, ist Selbstschutz. Dass Ungleichheit im Vergleich der Nationen abnimmt, ist erfreulich, dass sie innergesellschaftlich wächst, ist bedrohlich. Das wusste schon George Bernard Shaw. "Mit der Ausbreitung der Armut nimmt der Wohlstand stetig ab", hat er gesagt. "Nur die Vermögen wachsen an - aber das ist etwas ganz anderes."

Eine Wiederholung der Sendung vom 19.02.2017

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