"Leben heute gut? Dann bin ich froh" - Eine Geschichte über Flucht und Hilfe
Ein demütigender Empfang
Jascha Nemtsov lehrt an der Musikhochschule Weimar Klavier und bildet in Potsdam Rabbiner aus. Nemtsov stammt aus Sibirien und hatte im vergangenen Jahr mit seinen Studenten Kiew besucht. Dort haben ihn der Kult um den ukrainischen Nationalistenführer Bandera und rechtslastige Symbole befremdet. Telefonisch hatte er bei diesem Besuch wegen einer Wohnmöglichkeit kurz Anna kontaktiert, die Unternehmerin. Anna ist jetzt, ein Jahr später, mit ihren Kindern nach fünf Tagen Flucht in einer sächsischen Sammelunterkunft gelandet. Nadja, die Musiklehrerin, wartet dort bereits auf sie an einem Ort, der sie kaum hätte demütigender empfangen können.
Der Leiter dieser Einrichtung hatte beschlossen, dass Anna, ihre endlich doch eingetroffene Mutter Tamara, Nadja, Schwester Katja und alle anderen Ukrainerinnen, die in Mehrbettzimmern mit Stockbetten wohnten, schon etwas leisten müssten, um in deutscher Sicherheit leben zu dürfen. Er weist sie an, in seinem Studentenheim unentgeltlich Toiletten zu reinigen. Wochenlang, jeden Tag stundenlang Kloputzen. Ohne Lohn.
Warum bringt Ihr uns alte Kleider?
Anna wendet sich verzweifelt an den russischen Pianisten Jascha. Und auch er wollte helfen. So fanden wir schließlich zusammen. Auf Facebook hatte Nemtsov die Bilder unserer Pop Up-Schnittchenmanufaktur entdeckt. Wie so viele Helfer wollten wir keine Kleiderschränke leeren, um dort Platz zu schaffen. Ukrainer sind nicht nackt, warum bringt Ihr uns alte Kleider?, hatte eine geflüchtete Journalistin erstaunt gefragt. Deshalb war zunächst ein unentgeltlicher Cateringservice entstanden als Nachbarschaftskollektiv-Initiative. Kleine Köstlichkeiten, reich verziert, selbst gemacht im Morgengrauen. Hunderte von Pumpernickeln, mit Ei und Forellenkaviar oder Lachs und Meerrettich belegt, hübsch serviert auf Tabletts mit Servietten, leicht zu greifen. Aus den Zügen am Hauptbahnhof strömten Tausende, die oft Tage unterwegs gewesen waren, völlig übermüdet und ausgehungert. Mütter, Kinder und alte Menschen warteten in langen Schlangen auf eine erste Registrierung, freuten sich an den Schnittchen, und so kamen wir ins Gespräch.
Beispiele machen Schule
Die Schnittchen ermöglichten Kontakte, Nähe. Eine junge Mutter aus Odessa, Olga, nahm drei. Ihr Sohn sei krank und brauche einen geschützten Raum. Ob wir nicht eine Wohnung wüssten? Unsere Schnittchen hatten es als Aufforderung, Gleiches zu tun, auf Facebook und WhatsApp zu einer kleinen Prominenz gebracht. Exempla trahunt, Beispiele ziehen, machen Schule. Also fotografiere ich Olga mit den Kindern, setze den Post auf öffentlich, ein kleiner Hilfssturm bricht los. Innerhalb eines einzigen Tages findet Olga eine sichere Wohnung über Freunde. Exempla trahunt. Diesen Vermittlungs-Erfolg posten wir deshalb ebenfalls. Daraufhin meldet sich der russische Pianist Jascha Nemtsov, und so landet Anna mit Kindern in Berlin: eine sportliche, dynamische junge Frau mit einem SUV, drei Taschen und einem kleinen Hund. Mehr ist ihr aus den 38 Jahren ihres Lebens nicht geblieben. Sie hatte in der Ukraine Wochenendhäuser gebaut und vertrieben. Also auf ein Neues: Foto mit Kindern, ein Post auf Facebook und in der WhatsApp-Gruppe. Dutzende seriöser Wohnungsangebote folgen, alle mietfrei, bis die bürokratischen Hürden der Ämter überwunden wären, was nach zwei Monaten noch immer nicht geschafft ist.
Wie Hilfe funktioniert, ohne zu beschämen, zeigt uns einen Tag darauf die Besitzerin einer Eigentumswohnung. Als wir mit Anna klingeln, steht die Vermieterin VOR ihrer Wohnung und überreicht Anna und den Kindern die Schlüssel mit den Worten: "That's your apartment. Feel at home for half a year." Das ist Eure Wohnung, hier seid Ihr das nächste halbe Jahr zu Hause.
Alle sind dankbar, helfen zu können
Für die Musiklehrerin Nadja und deren Kinder zieht eine Bäckereiangestellte aus ihrer Mietwohnung zu ihrem Freund. Die Stadträtin besorgt ein Klavier. Für Annas Schwester Katja und Mutter Tamara verzichtet ein freier Journalist auf seine Datscha bei Berlin. Vielleicht zufällig, dennoch auffällig: Keiner der Wohnungsgeber hat größere Rücklagen oder ist gar reich. Alle sind dankbar, helfen zu können. Trotz der Hindernisse wie Wohnsitzauflagen, Zuweisungsbescheide, Fiktionsbescheinigungen und weiterer quälender Amtsschimmeleien. Gemeinsame Konzertbesuche, Pizzaschlachten und Wochenendausflüge, immer mit der Übersetzer-App deepl, entschädigen.
Doch was fühlen erwachsene, vor kurzem noch beruflich erfolgreiche Frauen wie Anna, die Musikerin Nadja, die Kosmetikerin Katja und die Wirtschaftsprüferin Tamara mit dieser Abhängigkeit von einem deutschen Hilfskollektiv? "A little bit like children, we are your child", lacht Anna. "You all are very good parents." Sie seien die Kinder und wir die guten Eltern. Was wäre der größte Wunsch der Musikerin Nadja und ihrer Kinder? "Dass wir alle gemeinsam mit Euch im nächsten Sommer an den Ufern des Dnjepr sitzen und den Frieden genießen können."
- Teil 1: Die Flucht vor dem Krieg
- Teil 2: Ein demütigender Empfang