Zum Tod von Michail Gorbatschow: "Eine ambivalente Persönlichkeit"
Michail Gorbatschow gilt als einer der Wegbereiter der deutschen Wiedervereinigung. Nun ist der frühere Kremlführer mit 91 Jahren gestorben. Ein Gespräch mit dem Historiker Stefan Creuzberger.
Herr Creuzberger, im Zusammenhang mit Michail Gorbatschows Bedeutung für die Geschichte - gerade für uns Deutsche - sprachen Sie oft von einem Glücksfall. Wenn wir darauf schauen, was er verändert hat im Gefüge der Welt: Was war sein größtes Verdienst?
Stefan Creuzberger: Das größte Verdienst eines Michail Gorbatschows für die Welt bestand darin, dass ein sowjetischer Generalsekretär bereit war, den tiefen Bruch zu wagen unter politisch-ideologischen Gesichtspunkten dem Westen, der bis dahin ein Klassenfeind gewesen ist, das Existenzrecht zu gewähren. Und mit einer ganz gehörigen Portion Vertrauen, dass er dem Westen gegenüber brachte, aber auch gleichzeitig das Vertrauen, das er mit Blick auf die internationalen Beziehungen erwartete, seinen Beitrag zu leisten, diesen Kalten Krieg, der seit 1947 weltweit währte, zu beenden. Darin sehe ich eine große Leistung. Die Deutsche Einheit ist Teil dessen - aber es ist ein großes Projekt gewesen für die Welt. Wobei ich dazu sagen muss: Es war nicht von Anfang an das Ziel, die Sowjetunion abzuschaffen und den Ostblock aufzugeben. Gorbatschow wollte die Sowjetunion, wollte den Ostblock effizient für das 21. Jahrhundert machen, er wollte weiterhin als Supermacht das Geschehen der Welt prägen. Dass das letztlich auf das Ende der UdSSR hinausgelaufen war, das waren die Eigendynamiken, die daraufhin einsetzten.
Gorbatschow hat die Menschen mit eingebunden. Wollte er wirklich das Ende des Kalten Krieges? Oder hat er sich einfach der Zeit gebeugt?
Creuzberger: Er hat erkannt, dass die gegenseitige Bedrohung, die gleichzeitig auch von der Sowjetunion Überrüstung abverlangte, auf diese Art und Weise nicht mehr weitergehen konnte. Wenn die Welt entspannt wird und hier eine Normalisierung eintritt - und ihm schwebt immer vor Augen, dieses europäische Haus der gleichberechtigten Miteinanders kreieren zu wollen -, das hätte aus seiner Sicht auch eine immense ökonomische Entspannung im Land selbst bedeutet. So gesehen sind das die entscheidenden Momente, die ihn in seinem Denken und seinem politischen Wirken geprägt haben.
Im Gegensatz zu Putin hat Gorbatschow nicht auf Gewalt gesetzt. Er wollte kein Imperium, er wollte die Sowjetunion. Aber Gorbatschow hat außenpolitisch Putins Kurs gutgeheißen, er hat die Annexion der Krim verteidigt, gesagt, man dürfe die Krim nicht von Russland losreißen, sie sei ein Teil Russlands. Auch das gehört zu einer differenzierteren Betrachtung Gorbatschows.
Creuzberger: In der Tat, Gorbatschow ist mitunter eine ambivalente Persönlichkeit. Das ist sehr wichtig, wenn wir heute über ihn sprechen. Wir müssen ihn würdigen mit seinen Leistungen, die er zweifellos hat: Er hat sich diesen Friedensnobelpreis redlich verdient. Aber wir müssen ihn auch in seiner Ambivalenz sehen. 1990 bekam er den Friedensnobelpreis, 1991 hat er sich zeitweilig mit den Konservativen in der Sowjetunion verbündet, und das endete darin, dass wir einerseits den Putschversuch hatten, das endete teilweise auch darin, dass er in Litauen, in Lettland versuchte, das Freiheitsbegehren zeitweilig zu unterdrücken - auch mit einigen Toten, die das zur Folge hatte. Auch das ist Michael Gorbatschow, den man in seiner Widersprüchlichkeit sehen muss.
Hochgeachtet im Westen als Elder Statesman, in Russland längst isoliert, dort als Totengräber der Sowjetunion beschimpft. Halten Sie es für denkbar, dass in Zukunft noch mal jemand kommt wie Michail Gorbatschow?
Creuzberger: Das ist im Grunde Kreml-Astrologie, so wie wir es in Zeiten des Kalten Krieges hatten. Was wird in Russland passieren? Das ist ganz schwer zu sagen. Im Augenblick kann ich mir das nicht vorstellen. Wir hatten Zeiten gehabt, auch in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren, wo wir auch im liberalen Lager durchaus Persönlichkeiten gehabt haben, die charismatisch genug gewesen sind. Aber die sind entweder verstorben, ermordet oder ins Ausland getrieben worden. Im Staate Putin lässt sich im Augenblick keiner ausmachen, der in dieser Hinsicht als eine hoffnungsweckende Persönlichkeit zu sehen wäre. Es wird immer ein Mann wie Nawalny genannt, der jetzt im Lager, in der Verbannung lebt. Gleichwohl muss man bei allen Verdiensten von Nawalny sagen: Er ist auch in der russischen Bevölkerung nicht unumstritten und ist nicht unbedingt die Führungsfigur, die repräsentativ für die Stimmung in Russland ist.
Jetzt bleibt die Frage, welche internationalen Gäste wohl zur Beerdigung nach Moskau kommen dürften, um dem Mann, der das Wort vom europäischen Haus geprägt hat, die letzte Ehre zu erweisen. Viele Politiker des Westens sind ja mit Einreiseverboten belegt.
Creuzberger: Das ist die Tragik mit Blick auf diese Person Michail Gorbatschows, dass er letztlich auch ein Opfer dieser ganzen politischen Entwicklungen geworden ist. Ich kann mir schwerlich vorstellen, dass in diesen Zeiten westliche Politiker nach Russland reisen werden. Die Situation lässt es nicht zu.
Das Gespräch führte Philipp Cavert.
