Hanno Rauterberg © imago/Sven Simon Foto: Sven Simon
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AUDIO: Warum gute Absichten nicht Sinn und Zweck der Kunst sind (11 Min)

Warum gute Absichten nicht Sinn und Zweck der Kunst sind

Stand: 01.10.2022 08:40 Uhr

Je öfter die Kunst in einem sozialen Sinn als nützlich gelten möchte, desto schwieriger wird es für sie, ihre Freiheit zu behaupten. Das beobachtet der Journalist Hanno Rauterberg in seinem Gastbeitrag.

von Hanno Rauterberg

Marina Abramović ist eine der bekanntesten Künstlerinnen überhaupt. Sie galt vor einigen Jahren noch als ausgemachter Bürgerschreck. Oder sagt man Bürgerschreckin? Jedenfalls legte sie größten Wert darauf, möglichst radikal aufzutreten, schonungslos gegen alle und vor allem gegen sich selbst. Für ihre Performance-Kunst riss sie sich die Haare aus oder ließ sich den Bauch aufschlitzen, schrie, so laut und so lange, bis sie fast zusammenbrach. Das war vor 30 bis 40 Jahren. Heute hingegen scheint Abramović wie ausgewechselt: Nicht das Aufstören und Irritieren, die Grenzüberschreitung, sondern die Befriedung ist jetzt ihr Ziel. Ihre Performances folgen den Prinzipien der Achtsamkeit: Reiskörnerzählen, Langsamgehen, solche Dinge. Und nicht Gebrüll, sondern stundenlanges Schweigen gilt ihr jetzt als höchste Kunst.

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Diese Verwandlung ist durchaus typisch für das, was sich in der Kunstwelt als ganzer gerade abspielt, fast möchte man es eine Zeitenwende nennen: Lange verstanden sich die meisten Künstlerinnen und Künstler als Ausnahmegestalten, spezialisiert auf Provokation und Schock, auf Zumutungen jeglicher Art. Nun jedoch verfolgen viele, sehr viele ein anderes Ziel: Sie wollen hilfreich sein, konstruktiv, manche verstehen sich als Medium einer besonderen, künstlerischen Heilkraft.

So schlugen drei von ihnen, Mithu Sanyal, Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz, zu Beginn dieses Jahres vor, der Deutsche Bundestag solle einen Parlamentsdichter engagieren, wohldotiert, ausgestattet mit eigenem Büro. Schließlich könne die Kunst, könnten die Dichter und Dichterinnen dazu beitragen, "nicht nur die Mitte Europas, sondern am besten den ganzen Kontinent zu einem friedlicheren, gerechteren, klimarettenden Ort" zu machen.

Nützlich und sozial: Der Rollenwechsel der Kunst

Friedlich, gerecht, klimarettend - nicht zufällig hört sich das nach dem an, was sich auch die gerade beendete documenta in Kassel für diesen Sommer vorgenommen hatte. Bekanntlich kam es dann deutlich anders als gedacht: Was als eine Feier der Einvernehmlichkeit, als Friedens- und Freundschaftsfest geplant war, endete als verbitterter Antisemitismusstreit, als Skandal-documenta. Wie gesagt: unabsichtlich. Nicht Provokation, sondern Harmonie stand eigentlich auf dem Programm. Und auch hier sollte die Kunst ihre Nützlichkeit unter Beweis stellen: weltverbessernd und stets lösungsorientiert. Aus den Besuchern sollten Benutzer werden, Benutzer einer nützlichen Kunst.

Und warum auch nicht. Ist es nicht gut und schön, dass Künstlerinnen und Künstler nicht länger nur um sich selbst kreisen, egomanisch, asozial? Dass sie in einer an Krisen und Kriegen nun wirklich nicht armen Welt eine hilfreich-aufbauende Rolle übernehmen? Was sollte verkehrt daran sein, dass sich die Ästhetik ethischen Zielen verpflichtet? Nun, verkehrt ist es nicht. Doch bleibt dieser Rollenwechsel auch nicht folgenlos, ganz im Gegenteil. Meine Beobachtung: Je öfter die Kunst in einem sozialen Sinn als nützlich gelten möchte, desto schwieriger wird es für sie, ihre Freiheit zu behaupten. Eine Freiheit, für die jahrhundertelang gestritten wurde, die vom Grundgesetz garantiert wird - und die sich jetzt, kaum merklich, zu verabschieden beginnt.

Es steht der Politik nicht zu, die Grenzen der Kunst zu definieren

Natürlich, niemand hat das Grundgesetz geändert: Die Kunst ist frei, so steht es da nach wie vor und niemand wird es infrage stellen. Sollte man jedenfalls denken. Doch zu Beginn der documenta - ein bemerkenswerter, bislang viel zu wenig diskutierter Vorgang - trat der Bundespräsident auf, Frank-Walter Steinmeier, hielt die Eröffnungsrede und setzte kurzerhand der Kunstfreiheit eindeutige Grenzen. Liebe Künstlerinnen und Künstler, sagte er sinngemäß, ist schon in Ordnung, dass ihr gelegentlich mal kritisch seid, auch in Sachen Israel. Aber wo die Kritik umschlägt in eine Infragestellung der Existenz dieses Staates, da ist Schluss mit lustig, da hat die Kunstfreiheit ihre Grenze erreicht.

Inhaltlich kann man diese Warnung gewiss nachvollziehen, zugleich aber war der Vorgang selbst eine Grenzüberschreitung. Es steht der Politik schlicht nicht zu, die Grenzen der Kunst zu definieren, es steht ihr nicht zu, von Künstlerinnen und Künstlern, auch von ausländischen, zu verlangen, sich an die deutsche Staatsräson zu halten. Wenn überhaupt tun dies Gerichte. Sie entscheiden, was die Kunst darf und was nicht. Dass sich Steinmeier an diese eigentlich klare Gewaltenteilung nicht hielt, darf man durchaus beunruhigend finden. Hier zeigt sich auf symptomatische Weise, wie es um den Status der Kunstfreiheit gerade steht. Nämlich nicht besonders gut.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Gedanken zur Zeit | 01.10.2022 | 13:05 Uhr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

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