Vor 80 Jahren: Holocaust-Überlebende Butter und das Kriegsende
Der 8. Mai 1945 wird heute als Tag der Befreiung gefeiert. Wie hat die Holocaust-Überlebende Irene Butter das Ende des Zweiten Weltkriegs in Erinnerung? Sie war damals 14 Jahre alt und dem mörderischen KZ Bergen-Belsen kurz zuvor entkommen.
Irene Butter ist inzwischen 94 Jahre alt, eine geborene Hasenberg. Gerade erst hat sie an der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen in Niedersachsen teilgenommen. Dafür ist sie extra aus den USA angereist, wo sie seit vielen Jahrzehnten lebt. An den 8. Mai 1945 kann sie sich noch gut erinnern. Sie war damals in einem Flüchtlingslager in Algerien untergebracht, in der Hafenstadt Philippeville. Alle um sie herum feierten das Ende des Zweiten Weltkriegs. Nur sie nicht. "Ich fühlte keine Freude. Mir war nicht nach Tanzen oder Singen zumute", erzählt Irene Butter im Gespräch mit NDR Info. Zu sehr vermisst die 14-Jährige ihre Familie, die sie seit Monaten nicht gesehen hat. Ein besonderer Tag war es aber allemal. "Das Kriegsende war natürlich eine große Sache. Alle hatten so viel gelitten während des Krieges - und nun war der Tag der Befreiung."
"Die meisten hatten Familie dabei - nur ich nicht"
Bei Kriegende ist für Irene Butter nicht klar, was die Zukunft bringt. Ob sie ihre Familie jemals wiedersehen wird? Sie weiß es nicht. "Zwar waren auch viele Leute in Algerien, die ich - mehr oder weniger gut - aus Bergen-Belsen kannte. Aber ich fühlte mich trotzdem einsam. Die meisten hatten Familie bei sich, nur ich nicht." Das Lager in Philippeville sei in mancher Hinsicht ein guter Ort gewesen. Viele Menschen hätten versucht, den jüdischen Flüchtlingen zu helfen. "Wir lebten in Frieden und konnten das Lager verlassen, wann immer wir wollten. Und ganz in der Nähe gab es einen wunderschönen Mittelmeer-Strand, wo ich schwimmen lernte", schildert Irene Butter. Sie wurde in Berlin geboren, aber 1937 floh die Familie vor den Nationalsozialisten nach Amsterdam.
Der Vater stirbt kurz nach Bergen-Belsen
Das KZ Bergen-Belsen, in dem das jüdische Mädchen Anne Frank starb, hatte sie im Januar 1945 verlassen können - zusammen mit ihrem Vater, ihrer Mutter und dem zwei Jahre älteren Bruder Werner. Zu viert hatten sie zuvor elf Monate lang den Terror und das Elend im Konzentrationslager überlebt. Aber der Vater stirbt auf dem Rote-Kreuz-Transport von Bergen-Belsen in die Schweiz. Und die Mutter und der Bruder sind so schwer gezeichnet von der Zeit im Lager, dass sie in der Schweiz in einem Krankenhaus bleiben müssen. Irene Butter muss alleine weiterreisen, sie wird nach Algerien gebracht.
Wiedersehen in New York
Die Teenagerin wünscht sich dort nichts mehr, als ihre Mutter und ihren Bruder möglichst bald wiederzusehen. Entweder in der Schweiz oder in Algerien. "Aber nichts davon passierte. Und so waren wir 18 Monate lang getrennt, ehe wir uns in den USA wiedersahen", erzählt Irene Butter. Denn sie erhält schließlich ein Visum für die USA. Und so gelangt sie von Algerien aus im Dezember 1945 per Schiff nach New York, wo sie von Verwandten aufgenommen wird. Später reisen ihre Mutter und ihr Bruder aus Europa hinterher.
Bergen-Belsen - ein Albtraum
Im Alter von 13 Jahren war Irene Butter - damals hieß sie noch Irene Hasenberg - mit ihren Eltern und dem Bruder nach Bergen-Belsen gekommen. Am 17. Februar 1944. Zunächst wähnen die Hasenbergs sich im Glück. Denn ihre Namen standen schon auf einer Liste für das Vernichtungslager in Auschwitz. Aber einem Freund des Vaters gelang es, ihre Namen von der Liste zu entfernen. Und das KZ Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide galt als ein "besseres Lager". Dort gab es keine Gaskammern. Vielmehr brachten die Nazis in Bergen-Belsen die "Austausch-Juden" zusammen, um sie den Alliierten gegen Geld, Kriegsgerät oder gegen Deutsche, die im Ausland interniert sind, zum Tausch anzubieten.
Auf der Fahrt sind die Hasenbergs noch guter Dinge, denn sie glauben an die nahende Freiheit. Sie besitzen ecuadorianische Reisepässe. Doch als die jüdische Familie an der Rampe von Bergen-Belsen ankommt, werden sie von bellenden Schäferhunden und brüllenden SS-Leuten empfangen. "Da standen einige Leute am Stacheldrahtzaun, die angsterfüllt aussahen", erinnert sich Irene Butter. "Und sie waren abgemagert und trugen nur Lumpen. Also, für mich sah das nicht nach einem besseren Ort aus."
Wie tröstet man kleine Kinder im KZ?
Das Konzentrationslager Bergen-Belsen ist ein brutaler Ort. Die Erwachsenen müssen hart arbeiten, auch ihr Bruder. Von früh morgens bis in den Abend. "Das war Sklavenarbeit", sagt Irene Butter. Sie ist die Einzige, die tagsüber in der Baracke zurückbleibt. Ihre Aufgaben: die Baracke sauber zu halten und für ihre Familie die Wäsche zu waschen - mit kaltem Wasser, ohne Seife.
Zudem kümmert sie sich um die kleinen Kinder der anderen Familien. "Das war sehr traurig", so Irene Butter rückblickend. "Die Kinder hatten Angst, weil ihre Eltern für die Arbeit das Lager verlassen mussten. Manche waren krank - und wir konnten ihnen nicht helfen. Und sie waren hungrig, aber wir hatten kein Essen. Wir konnten auch nichts mit ihnen spielen. Das Einzige, was wir tun konnten, war, sie in den Arm zu nehmen und ihnen vielleicht noch ein Lied vorzusingen."
Alltag in Bergen-Belsen: Gewalt, Hunger und Seuchen

Täglich lassen die SS-Leute die Insassen auf dem Appellplatz zum Abzählen antreten. In der Sonne, im Regen, im Schnee. Oft dauert das viele Stunden. "Ich werde nie vergessen, wie sich eines Tages eine ältere Frau während des Appells hinsetzte, weil sie einfach nicht mehr stehen konnte. Und da kam ein Nazi und schlug sie mit einem Knüppel zu Tode."
Im Winter 1944/45 verschlimmert sich die Lage. Es gibt noch weniger zu essen, bald breiten sich Seuchen aus. "Für mich war es eine sehr beängstigende Zeit, weil sich der gesundheitliche Zustand meiner Eltern stark verschlechterte." Der Vater erholte sich nie richtig von einer Lungenentzündung. Die Mutter war so schwach, dass sie nicht mehr aus dem Bett kam. "Also kümmerte ich mich um meine Mutter. Aber es schien, dass meine Eltern von Tag zu Tag schwächer wurden."
Irene musste sich mit ihrer Mutter ein Bett teilen. "Man schlief nachts ein und hoffte, dass man am nächsten Morgen wieder aufwacht. Und wenn man das tat, sah man, wie viele Menschen um einen herum in der Nacht gestorben sind. So war das jede Nacht." Von den 120.000 Menschen, die als Häftlinge im Konzentrationslager Bergen-Belsen waren, starben mindestens 52.000.
Im Zug können sie den Davidstern abnehmen
Im Januar 1945 kommt dann die erlösende Nachricht, dass einige jüdische Familien das Lager verlassen sollen - unter ihnen sind die Hasenbergs. Mit letzter Kraft schleppt sich die Familie zu den Gleisen. Irenes Vater kann kaum gehen. "Ich erinnere mich nicht gerne daran, wie mein Vater aussah, als wir den Zug bestiegen. Er war so schwach." Immerhin: Der Zug ist kein normaler Zug, sondern vom Roten Kreuz eingesetzt. "Allein das machte einen großen Unterschied", schildert Irene Butter 80 Jahre später. "Sie sagten uns, dass wir unseren Davidstern von der Kleidung nehmen könnten, was wir auch taten. Der Zug war beheizt und sie gaben uns warmes Essen - und es waren keine Rüben. Und so dachten wir langsam: Vielleicht landen wir nun an einem besseren Ort."
Dem Vater bleibt ein Massengrab erspart

Die Zugfahrt in die Schweiz dauert vier Tage. In der zweiten Nacht stirbt der Vater, es ist der 23. Januar 1945. Irene Butter weiß noch genau, wie sie damals sagte: "Aber wir sind doch fast da." Als der Zug im süddeutschen Biberach hält, tragen Männer den Leichnam des Vaters aus dem Waggon und legen ihn auf eine Bank am Gleis. "Natürlich hatten meine Mutter, mein Bruder und ich keine Wahl. Wir mussten auf dem Zug bleiben, der uns aus Deutschland rausbringen sollte." Der Vater wird auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim bestattet. "Ich habe mit der Zeit gelernt, dafür dankbar zu sein, dass mein Vater nicht in Bergen-Belsen gestorben ist", sagt Irene Butter heute. "Denn dort wäre er in einem Massengrab gelandet. So hat er ein Grab auf einem jüdischen Friedhof, das ich schon mehrmals besucht habe."
Aussöhnung mit Deutschland: Viele Freunde gefunden
In den USA lernt die gebürtige Deutsche im Jahr 1955 ihren späteren Ehemann Charles Butter kennen. Das Paar bekommt zwei Kinder: einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter Ella ist es dann, die ihre Mutter Anfang der 1970er-Jahre dazu bringt, vor ihrer Schulklasse von ihrer Zeit in Bergen-Belsen zu berichten. Dies sollte der Auftakt für viele weitere Auftritte sein. Und so spricht Irene Butter seit mehr als 50 Jahren regelmäßig in Schulen über ihre Kindheit unter den Nazis, über Verfolgung, Vertreibung, die Zeit im Konzentrationslager und ihre Rettung - auch mit Schülerinnen und Schülern in Deutschland. Im Jahr 2024 wird ihr für das Engagement das Bundesverdienstkreuz verliehen. Die Holocaust-Überlebende sagt, sie habe sich inzwischen mit den Deutschen versöhnt und hier viele gute Freunde gefunden.
Für eine Welt ohne Hass und Ausgrenzung
Die Welt heute bereitet der Holocaust-Überlebenden wieder Sorge. "Es gibt so viel Hass überall auf der Welt." Irene Butter spricht sich für mehr Menschlichkeit aus. "Wenn wir in einer besseren Welt leben wollen, müssen wir den Hass durch Liebe ersetzen und uns weigern, Feinde zu sein. Wir müssen die Würde jedes einzelnen Menschen anerkennen, unabhängig von der Hautfarbe, der Rasse, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, der sexuellen Bestimmung oder was auch immer der Unterschied sein mag. Das ist der einzige Weg, wie wir Frieden auf der Welt schaffen können."
Irene Butter hat sich vorgenommen, nie die Hoffnung verlieren - seien die Zeiten auch noch so schwierig. "Jemand, den ich sehr respektiere, hat mal zu mir gesagt: 'Wenn du die Hoffnung aufgibst, bleibt dir nichts mehr.' Wir müssen die Hoffnung aufrechterhalten. Dann geschehen vielleicht ein paar Wunder."
So wie es eigentlich ein Wunder ist, dass sie als jüdisches Mädchen das Kriegsende vor 80 Jahren überhaupt erleben konnte.
