Das Lehrerpult in einer verlassenen Klasse einer Grundschule. © picture alliance / Inderlied/Kirchner-Media | Inderlied/Kirchner-Media

Ukraine-Krieg: Die Sprachlosigkeit der Kinder

Stand: 02.05.2022 08:43 Uhr

Die Sprachenlehrerin Anna Mykhailiuk aus Wischgorod bei Kiew ist vor dem Krieg geflohen und unterrichtet nun am Gymnasium Winsen geflüchtete ukrainische Kinder. Sie spricht Ukrainisch, Japanisch, Englisch und Deutsch.

von Kerry Rügemer

Mittlerweile leben knapp 400.000 ukrainische Menschen in Deutschland, die vor dem Krieg in ihrem Land geflohen sind. Es sind überwiegend Frauen mit ihren Kindern und Alte. Eine von ihnen ist Anna Mykhailiuk. Die 40-Jährige ist mit ihren drei Töchtern über Berlin nach Hamburg gekommen und lebt jetzt in Stelle.

Sie ist Sprachlehrerin, spricht neben Japanisch und Englisch auch Deutsch. Kaum hier angekommen, hat sie angefangen, am Gymnasium Winsen ukrainischen Kindern Deutschunterricht zu geben. In dieser Woche bekommt sie einen Arbeitsvertrag und kann so nun offiziell Geld verdienen.

Anna Mykhailiuk: Muss wieder bei Null beginnen

"Hier muss ich alles von aus Null starten - und ich bin 40. Ich habe 20 Jahre gearbeitet. Und ich hatte dort Autorität, Respekt, einen sozialen Status. Ich hatte dort das Geld und alles. Wir hatten wirklich ein gutes Leben", sagt Anna Mykhailiuk. Dieses Leben war Ende Februar abrupt zu Ende.

Mykhailiuk beschließt bereits drei Tage nach Ausbruch des Krieges, ihre Heimatstadt Wischgorod bei Kiew mit ihren drei Töchtern zu verlassen. "Am 24. Februar haben wir diese Explosionen gehört und wir haben den ganzen Tag in der Garage meines Mannes gesessen. Und dann haben wir uns entschieden, Kiew zu verlassen. Wir haben nicht so viel gesehen. Ich habe keine gestorbenen Leute gesehen und meine Kinder auch nicht", berichtet sie.

Wegen der endlosen Schlangen vor der polnischen Grenze reist Anna Mykhailiuk über Ungarn, Slowenien und dann Polen endlich nach Deutschland ein. Jetzt ist sie endgültig in einem gerade leerstehenden Haus in Stelle untergekommen, zusammen mit einer Freundin und deren Kind. Sie will etwas tun, organisiert Studium, Schule und Kitaplatz für ihre drei Töchter - und beginnt dann, ukrainische Kinder aller Altersklassen am Gymnasium Winsen in Deutsch zu unterrichten. Aber nur unterrichten, ganz normal? Das ist schwer, denn die Kinder haben alle ihre eigene Geschichte von ihrer Flucht und dem, was davor geschah.

"Ich habe jetzt alle kennengelernt und versuche, diesen Kinder eine Seelenmassage zu machen. Ich versuchte, zu sprechen", sagt Mykhailiuk. "Sie haben verschiedene Geschichten, aber sie möchten das nicht gerne erzählen. Sie sind jetzt verschlossen. Wir haben ein Mädchen aus Butscha. Sie sieht so nett, so gut aus. Ich hab sie nach dem Haus, nach ihren Eltern gefragt, und sie konnte nichts sagen."

Kinder aus der Ukraine: Unterricht als Ablenkung

Diese Sprachlosigkeit ist gerade bei den ukrainischen Flüchtlingskindern weit verbreitet. Der Deutschunterricht lenkt sie ab - ungeschehen macht er die teilweise traumatischen Erlebnisse nicht. "Sie verstehen nicht, dass sie traumatisiert sind. Sie sagen: 'Wir sind okay. Wir sind hier mit Müttern - aber ohne die Väter'. Das ist nicht normal. Sie sagen, 'wir sind okay, hier haben wir 'no bombs'' - aber das ist nicht normal. Wir müssen das noch gucken. Die Situation im Gymnasium sieht ganz normal aus - aber wir wissen nicht, was in einem halben Jahr, in einem Jahr ist."

Anna Mykhailiuk versucht behutsam, für diese Kinder ein offenes Ohr zu haben, beobachtet sie genau. Und das alles, obwohl sie sich selbst viele Sorgen macht und sich um ihre Töchter kümmert, von denen die Jüngste gerade mal knapp zwei Jahre alt ist. "Mein Mann ist in der Ukraine - das ist das Schwierigste. Und meine Mutter ist in Cherson, das ist ein 'occupied territorium'. Diese Sachen sind die Schwierigsten für mich", erzählt sie.

Anna Mykhailiuk ist zweifellos eine starke Persönlichkeit. Die zierliche, blasse Frau versucht, positiv zu denken und arbeitet hart. Und dennoch spürt man jeden Moment während des Gespräches ihr Leid, ihren Kummer, ihre Sorgen hinter der lächelnden Fassade. Ob sie jemals in ihre Heimat zurückkehrt, das weiß sie momentan nicht. Jetzt baut sie sich und ihren Kindern erstmal hier ein neues Leben auf - und ist für die ukrainischen Schulkinder da. "Jeden Morgen bin ich so stark. Aber jeden Abend, wenn alle hier schlafen, sitzen wir und ich weiß, dass ich und alle anderen im Haus weinen."

Weitere Informationen
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Ukraine-Krieg: Die Sprachlosigkeit der Kinder

Die Sprachlehrerein Anna Mykhailiuk ist vor dem Krieg geflohen. Sie unterrichtet nun am Gymnasium Winsen ukrainische Kinder. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Matinee | 02.05.2022 | 10:20 Uhr

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