Jean Ziegler über Geflüchtete: "Eine Tragödie hinter der Tragödie"
Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges ist deutlich geworden, dass in Europa unterschiedlich mit Geflüchteten umgegangen wird - je nach dem, woher sie stammen. Ein Gespräch mit dem Globalisierungskritiker Jean Ziegler.
Herr Ziegler, sehen Sie auch einen Klassenunterschied unter Geflüchteten?
Jean Ziegler: Zuerst möchte ich sagen, dass die rasche, großzügige, unbürokratische Aufnahme von tausenden von Flüchtlingen aus der Ukraine eine sehr gute Entscheidung der europäischen Staaten ist. Das ist ein fürchterlicher Vernichtungskrieg in der Ukraine von einem Massenmörder Putin, geführt gegen die Zivilbevölkerung. Dass diese Menschen aufgenommen werden und dass ihnen geholfen wird, ist sehr gut. Aber es gibt eine Tragödie hinter der Tragödie, von der jetzt kaum mehr jemand spricht: Das ist die Rückweisung, die Verweigerung des Asylrechtes, die Verbrechen, die an der Ost- und Südgrenze des europäischen Kontinentes begangen werden gegen die Flüchtlinge, die nicht europäischen Ursprungs sind: Gegen Afghanen, Syrer, Iraker, Südsudanesen, Jemeniten, Somalier wird Europa abgeschottet, denen wird das Asylrecht praktisch abgesprochen - obschon das Asylrecht ein universelles Menschenrecht ist, festgelegt im Artikel 14 der universellen Deklaration für Menschenrechte der UNO: Wer in seinem Land bombardiert, gefoltert oder verfolgt wird, hat das Recht, eine Grenze zu überschreiten und in einem anderen Staat Schutz und Asyl zu ersuchen. Dieses Recht wird verweigert, wenn es um diese Flüchtlinge geht.
Die Strategie der Grenzpolizei, dieser Frontex-Organisation ist absolut völkerrechtswidrig. Es gibt einen aktuellen Untersuchungsbericht des Europäischen Parlamentes, der besagt, dass die militärisch bewaffnete Grenzschutzpolizei der EU Menschenjagd auf Flüchtlingsboote macht, sie im Mittelmeer zurückweist und so verhindert, dass sie an eine europäische Küste kommen.
In Polen sind noch bis zum Ausbruch des Ukraine-Krieges an der Grenze zu Belarus Menschen zurückgeschickt worden, auch im eisigsten Winter. Nach dem Ausbruch des Krieges hat Polen, obwohl die Ukraine weder zur NATO noch zur EU gehört, die Grenzen geöffnet. Da gibt es offensichtlich ein Unterscheidung in unser aller Köpfen und Herzen. Können Sie sich die erklären?
Ziegler: Die Hypothese ist: Rassismus. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Exekutive der Europäischen Kommission, hat die griechische Grenzpolizei, diese fürchterlichen Schlägertruppen, als "Schutzschild Europas" gepriesen und ihnen gratuliert. Die Angst vor Menschen, die nicht aus Europa kommen, dass diese Menschen Feinde der europäischen Lebensweise seien, dieses Gespenst geht um in Brüssel und in den Regierungsämtern der Mitgliedsstaaten. Das ist Rassismus, der mörderisch ist. Diese Unterscheidung zwischen nichteuropäischen Flüchtlingen, die die europäische Lebensweise mit ihrer Präsenz "bedrohen" - wie, weiß ich auch nicht -, und europäischen Flüchtlingen, die wie wir sind und deshalb aufgenommen werden und mit völkerrechtskonformer Strategie großzügig behandelt werden. Dieser Rassismus muss bekämpft und gebrochen werden. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Deutschland ist ein Rechtsstaat und in einem Rechtsstaat darf es keine rassistische Diskriminierung der Rechtssubjekte geben. Das muss die öffentliche Meinung durchsetzen. Wir, die Völker Europas, haben alle Möglichkeiten, unsere Regierungen zu zwingen, das Asylrecht wieder herzustellen - ob es Europäer oder Araber sind.
Das Interview führte Jürgen Deppe.
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