Yoko Ono und John Lennon machen einen Eskimo Kiss © picture alliance / AP Images | Bob Dear Foto: Bob Dear

Tag des Kusses: Das ist doch übertrieben!

Stand: 06.07.2022 11:57 Uhr

Alexander Solloch findet das Gewese um den Kuss in seiner Glosse doch einigermaßen übertrieben. Denn da wird doch etwas verschwiegen und verdrängt.

Er ist laut, mal zu klebrig, mal zu trocken und geht sowieso meistens daneben; man kann ihn auf Grundlage aller verfügbaren Fakten eigentlich nur scharf verurteilen. Trotzdem ist der Kuss so gut beleumundet wie allenfalls noch das Eichhörnchen oder Borussia Dortmund. Aber diese Beispiele zeigen ja schon deutlich an: Was alle diskussionslos irgendwie gut finden, verdient tatsächlich allerhöchstes Misstrauen. Da kann doch etwas nicht stimmen, da wird doch etwas verschwiegen und verdrängt.

Niemals aber ist der Mensch so ehrlich wie im Innersten seiner eigenen Gefühlswelten. Wen von uns hätte nicht schon beim Anblick eines knutschenden Paars in der Fußgängerzone eine Flut aus Ekel, Fremdscham und Widerwillen in die Gestade der schlechten Laune gespült? Darüber spricht natürlich keiner (außer allenfalls in einer ironisch verbrämten Radioglosse); aber viele fühlen sie doch, die Verbitterung über diesen demonstrativen Akt des öffentlichen Kusses. "Ätsch", sagen uns die Küsserinnen und Küsser, "wir Helden küssen übrigens hier gerade so herum, und was tut indessen ihr, ihr Versager auf dem Marktplatz der Liebe? Habt wohl alle nur Schlechteres zu tun, als wen zu küssen, was? Euch küsst wohl keiner, wie? Tja, kann ja nicht jeder so küssenswert sein wie wir, und jetzt tschüss, ich küss!"

Angebliche Zuneigung zum Kuss

Aber der Kuss ist ja nicht nur erbarmungswürdige Effekthascherei, der Kuss ist auch ein Machtinstrument. Seltsam, dass das all den jungen Jägern toxischen Verhaltens an den Unis noch nicht aufgefallen ist. Nur ein kleines bisschen subtiler als das mindestens ebenso kritikwürdige Händchenhalten drückt der Kuss aus: "Pass auf, ich küss hier jemanden, und dieser jemand gehört mir, und damit er nichts anderes behaupten kann, versiegele ich ihm den Mund mit diesem Kuss." Küssen, Händchenhalten, Heiraten: alles Rituale des romantischen Diktats, einen Menschen zu lieben bedeute, ihn zu besitzen.

Was ist es denn aber nun, was wir mit unserer angeblichen Zuneigung zum Kuss zu verdrängen suchen? Es ist, wie so oft, die Herkunftsscham. Restlos geklärt hat die Wissenschaft zwar noch nicht, warum Menschen sich überhaupt küssen. Aber es spricht doch einiges für die Vermutung mancher Forscher, dass sich unsere Vorfahren einst, wenn ihnen so die Gefühle kamen, eher im Intimbereich beschnüffelt haben (wie wir es heute noch bei Hunden beobachten können), ihnen bald aber der aufrechte Gang dazwischenkam, weshalb sie ihren Zärtlichkeitsversuch nach oben verschoben. Der Kuss bezeugt nicht unsere Liebe, sondern bloß unsere Faulheit. Weil das nicht sein darf, veranstalten wir so einen Firlefanz um ihn.

Zu viel Kuss und zu wenig Liebe

Tatsächlich spielt der Kuss im Reigen unserer Gefühle keine große Rolle, im Wortsinn: Können Sie sich an irgendeinen eindrucksvollen Kuss in der Weltliteratur erinnern? Sogar dem belesensten und brillantesten aller Literaturwissenschaftler, dem großen Peter von Matt, fällt da nicht viel ein. Seine Studie zum Thema heißt: "Sieben Küsse". Mehr nicht. Und doch ist ja die Literatur der Schauplatz der Liebe, dieser furchtbar schönen Allgewalt, die uns alle taumeln lässt, der sich sogar die kaltschnäuzigsten Schriftsteller schließlich chancenlos ergeben müssen.

Tausendprozentig ungewollt hat Leif Randt seinen jüngsten Roman "Allegro Pastell" mit diesen drei Worten enden lassen: "Ich liebe dich." … und ebenso ungewollt bricht der Leser, bricht die Leserin - bis eben noch kommod eingehüllt in die pragmatische Annehmlichkeit einer modernen Großstadtromanze - beim Lesen dieser drei Worte hemmungslos in Tränen aus. "Ich liebe dich". Auf dieser Welt ist zu viel Kuss und zu wenig Liebe.

 

 

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 06.07.2022 | 12:20 Uhr

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