Eine Panzersperre vor einem Museum in Kiew, Ukraine © picture alliance / AA Foto: Emin Sansar

Russlands Angriffskrieg: Ukraines Kulturgüter in Gefahr

Stand: 16.03.2022 15:17 Uhr

Beim Krieg in der Ukraine gilt der Angriff der russischen Truppen auch dem nationalen Erbe des Landes - mit ihm soll die Identität der Ukraine getroffen und nach Putins Willen am besten auslöscht werden.

Die internationale Organisation Blue Shield setzt sich auf nationaler und internationaler Ebene für den Schutz von materiellem und immateriellem Kulturgut in Konflikt-, Katastrophen- und Notfallsituationen ein. Ein Gespräch mit dem Vorstandsmitglied Alexander Gatzsche.

Herr Gatzsche, lässt sich schon absehen, wie groß die Bedrohung des Kulturguts in der Ukraine ist oder wie groß die Schäden schon sind?

Alexander Gatzsche: Wir wissen aktuell noch nicht wirklich, inwieweit es sich hierbei tatsächlich um einen sogenannten Ethnozid handelt, also die Zerstörung von kultureller Identität, indem man das materielle Kulturerbe zerstört. Allerdings liegen Sie da völlig richtig: Präsident Putin hat in seiner Ansprache am 24. Februar der Ukraine eindeutig das Nationalrecht aberkannt, also das Selbstbewusstseinsrecht, dass es eine ukrainische Identität überhaupt gibt. Wir von Blue Shield zusammen mit unseren konstituierenden Mitgliedern haben hier ein besonderes Augenmerk darauf. Denn sollte es sich tatsächlich um einen sogenannten Ethnozid handeln, dann wäre das eindeutig ein Kriegsverbrechen. Wenn auch nur eins von vielen, aber definitiv als Kriegsverbrechen zu werten.

Das Kernanliegen von Blue Shield ist die Umsetzung des Haager Übereinkommens zum Schutz des Kulturguts bei bewaffneten Konflikten von 1954 sowie der beiden Protokolle von 1954 und 1999. Darauf zu bestehen, ist das eine. Aber wie kann man das durchsetzen? Die Drohung mit einem späteren Prozess vor dem Kriegsverbrechertribunal dürfte Putin und seine Generäle nicht wirklich beeindrucken, oder?

Gatzsche: Sie müssen das aus der Perspektive betrachten, wie das ukrainische Volk vor Ort in dieser schwierigen humanitären Lage damit auch in Kontakt kommt. Denn das kulturelle Erbe ist vor allem für die wichtig, die vor Ort leben, und das sind die Ukrainer. Es hat sicherlich eine hohe Symbolwirkung, wenn es darum geht, Kulturgutzerstörung laut Internationalen Strafgerichtshof und des Römischen Statuts als Kriegsverbrechen einzustufen und hoffentlich später auch die Verantwortlichen zu verurteilen.

Die Frage ist auch, ob es am Ende nur bei den obersten Befehlshabern bleiben wird - wir haben viele verschiedene Kriegsverbrechen, die aktuell im Raum stehen. Als Beispiel dafür kann man den Einsatz in Mali nennen. Hier kam es bereits zur Verurteilung wegen Zerstörung von Kulturgut als Kriegsverbrechen, weil alle anderen Vorwürfe nicht belegbar waren. Allerdings ist es genau hier einfach, weil wir mit der Haager Konvention von 1954 das sogenannte Kennzeichnungsrecht und die Kennzeichnungspflicht haben, alle Kulturgüter, Museen, Archive, Bibliotheken mit dem blauen Schild zu kennzeichnen. Wenn das passiert, ist der Beweis und die Dokumentation der Kulturgutzerstörung einfacher. Denn wir müssen davon ausgehen, dass die russischen Truppen, wie sie sich in der Ukraine verhalten, nicht unbedingt über die beste Fernaufklärung verfügen. Das sieht man vor allem an dem Fortkommen der russischen Truppen. Und da ist die Frage, inwieweit die Soldaten und Befehlshaber wissen, dass sie Kulturgut vor sich haben. Laut Haager Konvention müssten sie es wissen, da sie das theoretisch in Friedenszeiten überall hätten vorbereiten müssen und auch die Ukrainer vor Ort die Kulturgüter hätten kennzeichnen müssen. Akut im Konflikt ist es fragwürdig, ob sie wissen, dass sie da eine Bibliothek oder ein Museum angreifen. Die Situation vor Ort ist so unübersichtlich, dass es gerade deswegen wichtig ist, ein besonderes Augenmerk auch auf das Kulturgut zu haben.

Weitere Informationen
Das Opernhaus in Odessa © picture alliance / Photoshot

Ukrainisches Kulturgut: Mutwillige Zerstörung oder Kollateralschaden?

Ein Gespräch mit dem Kunstwissenschaftler Konstantin Akinsha über die russischen Angriffe auf ukrainische Kulturgüter. mehr

Sebastian Majstorovic, ein Wissenschaftler aus Wien, versucht zusammen mit vielen Mitstreitern das kulturelle Erbe der Ukrainer zu digitalisieren, um es bei potenzieller Zerstörung zumindest digital zu erhalten. Angesprochen auf Blue Shield sagte er, dass es doch Blue Shield sei, die die russischen Truppen in ihrer Desorientiertheit mit der Nase darauf stoßen, was womöglich ein "zerstörenswertes" Kulturgut sein könnte. Würden Sei sich diesen Schuh anziehen?

Gatzsche: Das ist ein Vorwurf, der relativ häufig kommt. Allerdings ist es in gewisser Weise ein Trugschluss. Denn wenn es gar nicht gekennzeichnet worden wäre, dann gibt es einerseits kein Beleg dafür, dass die russischen Truppen das absichtlich zerstört hätten - selbst wenn sie es gewusst hätten, dass es Kulturgut ist. Und im Umkehrschluss haben die Ukrainer selbst dann hoffentlich den Überblick, dass, wenn sie sich verteidigen, sie so etwas nicht unbedingt selber als Verteidigungsstellung benutzen. Viele von den ukrainischen Streitkräften oder von der Zivilbevölkerung, die aktiv ist, kennen auch nicht alle Kulturgüter. Und hier ist es auch wichtig, dass sie darüber Bescheid wissen.

Museumsmacherinnen und -macher in Deutschland wollen Verpackungsmaterial und ähnliches an ihre Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine schicken, damit die ihre Kunstschätze schützen können. Ist das sinnvoll oder ist das eher ein hilfloses Zeichen der Anteilnahme?

Gatzsche: Als studierter Restaurator muss ich sagen: Es ist immer sinnvoll. Was wir in der Ukraine gerade beobachten, ist äußerst bewundernswert. Die Mitarbeiter der Museumshäuser, der Archive, der Bibliotheken bringen jetzt ihre Objekte in Sicherheit, verpacken sie, bringen sie in Keller, in Bunker, schützen sie mit Einhausungen, mit Puffermaterial, mit Sandsäcken. Und danach nehmen viele von ihnen eine Waffe in die Hand, gehen in den Krieg und kämpfen auch für das Kulturgut, was sie gerade eben noch beschützt haben. Solche Hilfegesuche erreichen uns auch explizit aus der Ukraine. Denn viele vor allem sehr historisch bedeutende Objekte stellen ganz andere konservatorische Anforderungen, auch an die Verpackung. Es bringt ihnen nichts, wenn sie zum Beispiel eine Ikone oder eine vergoldete Jesus-Statue in einen feuchten Bunker bringen. Hier geht es ganz explizit darum, korrektes Material zur Verfügung zu stellen, was auch sehr teuer ist. Hier koordinieren wir von Blue Shield die Hilfegesuche und richten das auch an die großen Museumsverbände, die wiederum von sich aus die entsprechenden Materialien und Hilfestellungen, unter anderem in Form von Anweisungen und Ratschlägen, in die Ukraine bringen können.

Das Interview führte Jürgen Deppe.

Weitere Informationen
Christoph Grunenberg © picture alliance / dpa Foto: Ingo Wagner

Museen in Gefahr: "Ukraines Identität soll zerstört werden"

Viele Museen in den umkämpften Gebieten der Ukraine sind in Gefahr. Ein Gespräch mit Museumsdirektor Christoph Grunenberg. mehr

Ein Mann steht in einem Gebäude in Kiew, das bei dem dritten russischen Luftangriff auf die ukrainische Hauptstadt innerhalb der letzten 24 Stunden stark beschädigt wurden. © Aleksandr Gusev/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa

Krieg in der Ukraine: News und Infos

Die russischen Angriffe auf die Ukraine gehen weiter. Alles zu Verlauf, weltweiten Folgen und Hintergründen des Konfliktes finden Sie hier. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 16.03.2022 | 18:00 Uhr

Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und lächelt in die Kamera. Neben ihr stehen die Worte "Die Hauda & die Kunst" © NDR/ Flow

Kunstwissen to go - serviert von Bianca Hauda

Bianca Hauda serviert Kunstwissen in kleinen Happen: Porträts von Künstler*innen, deren Bilder und Werke in deutschen Museen zu sehen sind. mehr

NDR Kultur App Bewerbung

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Hände auf der Tastatur eines Laptops. © fotolia Foto: bufalo66

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

Mehr Kultur

Drei Darstellerinnen im Stück "Angabe der Person" sitzen am Bühnenrand. © Arno Declair Foto: Arno Declair

"Angabe der Person" am Thalia Theater: ein bitterbös-spröder Genuss

Elfriede Jelineks neuestes Stück wurde am Freitag beim Hamburger Theater Festival gezeigt. mehr