Berlinale: "Ich blicke auf das Festival mit gemischten Gefühlen"
Anders als im letzten Jahr werden die Internationalen Filmfestspiele Berlin werden in Präsenz veranstaltet. Welche Filme gehen ins Rennen für die Berlinale? Ein Gespräch mit der Filmexpertin Katja Nicodemus.
Frau Nicodemus, wie haben der künstlerische Leiter Carlo Chatrian und die Geschäftsführerin der Berlinale, Mariette Rissenbeek, ihr Programm präsentiert?
Katja Nicodemus: Das war eine Präsentation im Netz ohne Publikum. Frau Rissenbeek sprach großteils Deutsch, Carlo Chatrian ausschließlich Englisch und das Ganze dauerte kaum 30 Minuten. Es war also ein schneller Ritt durch die Sektionen "Berlinale-Special", "Encounters" und "Wettbewerb". Das Ganze war sehr sachlich und ein bisschen unpersönlich - wie die Powerpoint-Präsentation bei einer Firmenversammlung.
Wie wird die Berlinale überhaupt stattfinden? Ist man auf Omikron und steigende Infektionszahlen vorbereitet? Vom "Roten Teppich" ist die Rede, festlich soll es auch werden - ist das nicht gewagt?
Nicodemus: Ja, das ist natürlich gewagt. Das Sicherheitskonzept konzentrierte sich auf Schlagworte: Reduzierung der Mobilität, Reduzierung der Filme um ein Viertel, Verteilung der Vorführungen auf möglichst viele Kinos, Verkürzung des Gesamtzeitraums für die Journalisten auf eine Woche - dafür soll es diesmal vier Publikumstage mehr geben. An dieser Stelle war es besonders schade, dass bei dieser Online-Präsentation keine Fragen möglich waren. Man hätte zum Beispiel gerne etwas zum Widerspruch gefragt, der dadurch entsteht, dass die Berlinale auf ihrer Website für das Berlinale Veranstaltungsticket der Deutschen Bahn wirbt und die Menschen in Deutschland ansonsten zum Homeoffice aufgerufen sind. Ich meine das überhaupt nicht polemisch, aber diese Fragen muss man mal stellen. Welche Priorität hat hier die Kultur gegenüber anderen Fragen des Zusammenlebens?
Welche Antwort haben Sie da für sich?
Nicodemus: Ich blicke auf dieses Festival mit gemischten Gefühlen. Für mich ist es gar keine Frage, dass die Kinos offen bleiben müssen und dass auch ein gedämpfter Kulturbetrieb in Theatern und Museen aufrechterhalten werden muss. Da gibt es überzeugende Konzepte. Teilhabe an Kultur muss ermöglicht werden - das kann man nicht oft genug sagen. Das ist aber doch etwas anderes, als das größte Kino-Publikumsfestival der Welt auf dem Gipfel einer weiteren Welle der Pandemie zu veranstalten - mit Publikum, mit Filmcrews, mit Kontrolleuren. Das kann man sich kaum vorstellen, wie viele Leute da arbeiten. Hinzu kommen wir, die Berichterstatter und Journalistinnen. Ich weiß nicht, ob man die Kultur in diesem Fall über das Risiko eines erhöhten Infektionsgeschehens stellen sollte. Aber ich wollte auch nicht in der Haut der Berlinale-Leitung stecken und die Verantwortung für diese Antwort übernehmen. Nur hätte ich gerne mit denen darüber gesprochen und Fragen gestellt.
Bevor wir über Namen sprechen: Lassen sich Linien, Themen, Entwicklungen im Programm abzeichnen?
Nicodemus: Das ist im Moment alles ein bisschen Orakelleserei auf dem Papier. Aber Carlo Chatrian hat auf der Pressekonferenz darauf hingewiesen, dass sich 50 Prozent der Filme mit dem Thema "Familie" beschäftigen - das fand ich schon interessant. Denn was macht man in den Zeiten der Pandemie, der Isolation, der Kontaktbeschränkung? Man schaut sich nicht, wie es das Kino sonst so oft macht, vor der eigenen Haustür um, sondern man richtet die Kamera nach innen, auf die kleinste Zelle des menschlichen Zusammenlebens. Natürlich kann das Kino auch auf beschränktem Raum und auch in einer Familienerzählung zum Fenster zur Welt werden. Zwei der 18 Wettbewerbsfilme beschäftigen sich übrigens explizit mit der Pandemie und es gibt so viele Liebesfilme wie nie zuvor. Das finde ich doch mal eine interessante Entwicklung.
Eröffnet wird das Filmfestival mit einem Film von François Ozon, "Peter von Kant", eine Fassbinder-Hommage, hochkarätig besetzt. Warum dieser Film zur Eröffnung?
Nicodemus: Ich glaube, das ist ein idealer Eröffnungsfilm. Das ist einerseits die Adaption eines Fassbinder-Films, "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" aus dem Jahr 1971. Die Hauptrollen spielten damals Margit Carstensen, Irm Hermann und Hanna Schygulla. Ich finde es faszinierend, dass François Ozon hier so einen Gender-Switch unternommen hat, indem er aus Petra von Kant Peter von Kant macht, gegen den allgemeinen Trend zur Feminisierung des Kinos, seiner Rollen und seiner Blickwinkel. Hanna Schygulla ist ja auch wieder dabei, Denis Ménochet und Isabelle Adjani spielen weitere Hauptrollen. Natürlich passt diese Fassbinder-Referenz zu Deutschland und zur Berlinale. Ozon hat 2000 schon mal einen Fassbinder-Film gedreht: "Tropfen auf heiße Steine" nach dem gleichnamigen Theaterstück von Fassbinder. Es gibt also eine Vielzahl von Bezügen zur Berlinale und zum deutschen Kino in diesem Eröffnungsfilm.
Kernstück des Festivals ist der Wettbewerb. Welche Namen sind dabei? Welche Namen und Filme vermissen Sie?
Nicodemus: Es ist erst mal eine Berlinale der alten Bekannten. Zwölf der 18 Regisseure und Regisseurinnen waren schon mal auf dem Festival zu Gast, acht liefen schon mal im Wettbewerb, fünf haben sogar schon mal einen Bären gewonnen. Es ist also ein vertrautes Setting. Auch François Ozon war schon auf der Berlinale und hat etwas gewonnen. Der Österreicher Ulrich Seidl ist dabei, der Südkoreaner Hong Sangsoo, die Schweizerin Ursula Meier, der Kanadier Denis Côte.
Es laufen zwei deutsche Filme im Wettbewerb, die ich sehr interessant finde: "A E I O U - Das schnelle Alphabet der Liebe" von Nicolette Krebitz und mit der großartigen Sophie Rois. Der zweite deutsche Wettbewerbsbeitrag ist Andreas Dresens Film "Rabiye Kurnaz vs. George Bush", eine NDR Koproduktion. Auf den Film bin ich besonders neugierig, weil sich Andreas Dresen hier auf internationales Terrain begibt - das ist für ihn außergewöhnlich. Er hat sonst sehr komplexe, interessante Heimatfilme in Ostdeutschland gedreht. Sein neuer Film erzählt den Kampf einer Mutter, Rabiye Kurnaz, die um die Freilassung ihres Sohnes Murat Kurnaz kämpft, der vom US-amerikanischen Geheimdienst gefoltert und auf Guantanamo festgehalten wurde. Das ist eine erschreckend authentische Geschichte.
Was im Wettbewerb vielleicht fehlt, ist so ein glamouröser US-amerikanischer Film. Innerhalb der nächsten Monate soll ja zum Beispiel die Netflix-Produktion "Blonde" herauskommen, nach dem gleichnamigen Buch von Joyce Carol Oates, das die Lebensgeschichte von Marilyn Monroe nachzeichnet. Da hätte ich es interessant gefunden, wenn so ein Film hier auch zu sehen gewesen wäre. Aber Carlo Chatrian hat nichts dazu gesagt, ob Streaming-Filme auf der Berlinale laufen können, sollen oder dürfen.
Von den 18 Filmen stammen sieben von Frauen. Ist das für Sie eine gute Quote?
Nicodemus: Man ist ja schon fast demütig. Ich glaube, in Venedig liefen im letzten Jahr vier Filme von Frauen. Die Quote auf der Berlinale ist absolut okay und deutlich besser als in Venedig und Cannes. In Berlin war allerdings die Frauenquote im Wettbewerb schon unter dem vorherigen Berlinale-Chef Dieter Kosslick besser als auf den anderen großen Festivals. Hoffen wir mal, dass es in den kommenden Jahren zu einer Quote von 50 Prozent oder mehr kommt und dass wir irgendwann gar nicht mehr über die Quote reden müssen.
Das Interview führte Claudia Christophersen.
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