Prof. Dr. Hans Michael Heinig im Porträt © Georg-August-Universität Göttingen

Prof mit Playlist: Der Soundtrack zum Grundgesetz

Stand: 23.05.2022 17:45 Uhr

Der Juraprofessor Hans Michael Heinig spielt seinen Studierenden Lieder vor, um den "emotionalen Raum" des Verfassungsrechts zu ergründen. Am Tag des Grundgesetzes haben wir mit ihm über die Songs seiner Playlist und den Zustand unserer Verfassung gesprochen. 

Vermeintlich trockene Stoffe zu vermitteln ist keine leichte Aufgabe. Das weiß auch der Jurist Prof. Hans Michael Heinig von der Georg-August-Universität Göttingen. Er hat das Buch "70 Jahre Grundgesetz: In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik?" geschrieben. 

Bei "Tauben vergiften" übers Grundgesetz reden

Heinig gibt natürlich auch Vorlesungen an der Uni, um seinen Studentinnen und Studenten den Stoff nahezubringen. Für diese hat er sich etwas Besonderes überlegt: eine Playlist mit Musiktiteln auf Spotify. Mit dabei sind Georg Kreisler ("Tauben vergiften"), Gloria Gaynor ("I Am What I Am") und Extrabreit ("Hurra, hurra, die Schule brennt"). 

Herr Heinig, was hat Ihre Playlist mit der Vermittlung des Grundgesetzes zu tun?

Hans Michael Heinig: Die Idee kam in der Pandemie, als wir in den digitalen Modus überwechseln mussten. Die unmittelbare Interaktion im Hörsaal fehlte. Gleichzeitig hatte ich immer schon die Idee, dass gerade Verfassungsrecht und die Grundrechte nicht nur etwas Rationales und Formales sind, sondern eben auch einen emotionalen Raum vermitteln. Und Musik ist einfach besonders hilfreich, diese Emotionen anzusprechen.

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Musikalisch sind Sie ja breit aufgestellt. Wie sind Sie auf die Titel gekommen? 

Heinig: Das ist Schwarmintelligenz à la Twitter. Ich hatte die Idee vorgestellt und dann gebeten, dass man mich unterstützt. Die Ideen habe ich gesammelt und die besten in die Playlist gepackt.

"Tauben vergiften" von Georg Kreisler und "Hurra, hurra, die Schule brennt" von Extrabreit - auf welchen Artikel des Grundgesetzes beziehen sich diese Lieder? 

Heinig: Es gibt tatsächlich eine Gerichtsentscheidung zum Taubenfüttern im Park und der allgemeinen Handlungsfreiheit. Es geht also nicht ums Vergiften, aber man kann diese Assoziationen herstellen. Und der Schulzwang ist eben auch ein Zwang. Der muss gerechtfertigt werden. Auch da gibt es Gerichtsentscheidungen. Die Erleichterung, die das Lied zum Ausdruck bringt, dass die Schule brennt, passt zu ihrem Charakter als autoritäre Institution. In ihr müssen Grundrechte greifen - auch das ist ein Thema, welches in meinem Vorlesungen behandelt wird.

Hat Ihre Idee das bewirkt, was Sie sich erhofft hatten? 

Heinig: Es gab, glaube ich, mehr öffentliche Resonanz als didaktischen Mehrwert in der Vorlesung. Es gibt einzelne Lieder, die auch selbst Gegenstand von Gerichtsentscheidungen waren, von Slime etwa das Lied "Deutschland". In dem heißt es: "Deutschland muss sterben, damit wir leben können". So etwas zu behandeln ist für eine Staatsrechts-Vorlesung etwas ungewöhnlich. Aber hier geht es tatsächlich um die Reichweite der Kunstfreiheit und wo dann auch die Grenzen gesetzt werden. Es ist ganz schön, das mit Hilfe solcher Materialien einzuüben: Wie setzt man bestimmten Freiheiten auch Grenzen? Und wie funktioniert ein liberales Grundrechtsdenken in einer pluralistischen Demokratie? Das kann man mit solchen Liedern und damit korrelierenden Entscheidungen anschaulich machen.

Nun sind die Menschen in Ihrem Hörsaal ja grundsätzlich schon interessiert am Grundgesetz, wenn sie Jura studieren. Was ist aber mit der breiten Bevölkerung? Nur wenige wissen ja, was eigentlich genau drinsteht in diesem wohl wichtigsten Gesetzestext. Wie kann man das verändern?

Heinig: Wir haben im Grunde zweierlei Verfassungsrecht. Das eine ist eben das, was wir im Hörsaal betreiben. Dort geht es um sehr technische Fragen, an denen die Studierenden geschult werden, um eine Klausur zu bestehen. Mit einer Playlist kann man natürlich keine Klausur bestehen - aber sie eröffnet einen assoziativen, emotionalen Raum, der für die Funktion der Verfassung in der Breite eine ganz wichtige Rolle spielt. 

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Die Verfassung ist auch immer eine Projektionsfläche von Wünschen für eine gerechte politische Ordnung. Und das spielt in der Öffentlichkeit schon eine ganz wichtige Rolle. Immer wieder wird betont, dieses sei verfassungswidrig, das verstoße gegen die Menschenwürde. Denken wir nur an die Auseinandersetzungen um die Corona-Politik. Wichtig ist für unser Gemeinwesen, dass dieses sehr Technische und Formelle, was am Ende Gerichte auch in Entscheidungen zum Ausdruck bringen, und dieses Überschießende und Imaginierende nicht zu weit auseinanderfällt. Dann funktioniert eine politische Verfassungsordnung ganz gut.

Dann ist der Diskurs ja eigentlich sehr wichtig - um das alles in Erinnerung zu rufen, darüber nachzudenken und neue Utopien zu entwickeln.

Heinig: Ja, und auch das Vermittelnde. Dafür brauchen wir öffentliche Foren, wie zum Beispiel den gehaltvollen Journalismus. Oder neue Formen wie den Verfassungsblog und den Versuch, in die sozialen Medien zu gehen. Das machen ja etliche Kolleginnen und Kollegen von mir, um eben auch so eine Vermittlungsfunktion wahrzunehmen zwischen den allgemeinen oder speziellen Erwartungen in der Bevölkerung und dem, was das Recht tatsächlich am Ende leisten kann.

Um den Titel Ihres Buches aufzugreifen: In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik im Jahr 2022?

Heinig: Das Buch war der Versuch, eine Denkschrift zu etablieren. Ich habe es zusammen mit meinem Göttinger Kollegen Frank Schorkopf herausgegeben. Es ist nicht nur eine Jubelschrift. Zum Verfassungsjubiläum ist es eigentlich üblich, dass man dann immer lobt, wie toll doch das Grundgesetz ist und was alles fantastisch daran ist. Ich meine, 70 Jahre sind jetzt auch ein ganzes Stück, und wir müssen auch nach vorne denken. Wie kommen Innovationen in das Verfassungsdenken hinein? Was sind die nächsten Herausforderungen? Was ist vielleicht auch an manchen Stellen nicht so gut gelaufen, nicht im Verfassungstext, sondern im Umgang mit der Verfassung? Das Buch ist der Versuch, das auch einem breiteren Publikum zu vermitteln.

Das Gespräch führte Eva Schramm.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 23.05.2022 | 17:15 Uhr

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